Antje Schrupp im Netz

Candomblé in Brasilien

Von der Sklavenreligion zur Touristenattraktion

Bild Umringt von einer dicht gedrängten Menschenmenge schlagen fünf junge Männer ihre Trommeln und singen Lieder in der afrikanischen Sprache Yoruba. Der Kultraum mitten im abgelegenen Armenviertel ist festlich geschmückt, geehrt wird Oxum, die Fruchtbarkeitsgöttin, Herrin über Flüsse und Seen. Etwa zwanzig weißgekleidete Frauen und Männer tanzen im Kreis und ahmen gleichförmig die Bewegungen der Göttin nach – stundenlang. Aus der ganzen Nachbarschaft sind die Menschen gekommen, um dem Ritual beizuwohnen; Kinder klettern auf die Fenstersimse, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen, Sitzplätze gibt es nur für wenige, würdevolle Ehrengäste.

Nach etwa eineinhalb Stunden fallen die ersten Tänzerinnen in Trance – die Göttin hat sich ihrer Körper bedient, um auf die Erde zu kommen und den Menschen mit Rat und Hilfe zur Seite zu stehen. Oxum hat ihre Kinder gefunden – auch wenn die heute längst nicht mehr in Afrika zuhause sind, sondern jenseits des Ozeans, in Salvador de Bahia, im Nordosten Brasiliens.

Afrikanische Sklavinnen und Sklaven haben die Religion der Yoruba-Gottheiten, der Orixàs, im 17. und 18. Jahrhundert nach Südamerika gebracht, und vor allem in Brasilien hat sich der Kult des Candomblé, wie er hier genannt wird, trotz Verboten und Zwangskatholisierung bis heute erhalten. Antonietta Nunes, Historikerin und Sozialwissenschaftlerin an der Universität von Salvador de Bahia:

«Der Candomblé ist eine Religion, die aus Afrika kam.In Afrika hat jeder Stamm, jede Nation, eine mehr oder weniger eigenständige Art, ihren religiösen Glauben auszudrücken. Hier in Bahia ist der Candomblé der Yorubas vorherrschend, weil im 18. Jahrhundert viele Menschen aus Nigeria und Daomé hierher gebracht wurden. Doch wir haben auch etwa 30 Prozent Candomblé, der mehr den Traditionen aus dem Kongo und Angola folgt. Aber in gewisser Weise sind sich diese Naturgottheiten sehr ähnlich. Auch wenn Menschen aus verschiedenen Gegenden Afrikas als Sklaven hierher gebracht wurden, konnten sie deshalb eine gemeinsame Religion tradieren. In Bahia benutzen wir heute meistens die Namen der yorubanischen Orixàs, weil sie die geläufigsten sind.«

Lange Zeit waren die afrikanischen Rituale in der portugiesischen Kolonie Brasilien verboten. Es war viel Erfindungsgeist und Beharrlichkeit notwendig, damit die Sklavinnen und Sklaven dort ihre Religion bewahren konnten. In der Kolonialzeit war die katholische Kirche eng verbunden mit dem portugiesischen Staat. Jede andere Religion, ob Protestantismus, Judentum, Candomblé, Islam, war verboten. Also veranstalteten die Schwarzen ihre Kulte heimlich.

«Sie hatten ihre Terreiros in abgelegenden Gegenden, weit entfernt von den Häusern der Weißen. Aber durch die lauten Klänge der Trommeln, der Atabaques, hat die Polizei diese Orte immer wieder entdeckt und die Schwarzen vertrieben. Deshalb gründeten sie Bruder- und Schwesternschaften innerhalb der katholischen Kirche. Um ihnen die Traditionen der Kirche näherzubringen, zogen die Jesuiten oft Parallelen zwischen den afrikanischen Göttern, den Orixas, und den Charaktereigenschaften verschiedener katholischer Heiligen. Doch die Schwarzen haben die Sache einfach umgekehrt und gesagt, wir veranstalten hier keinen Kult für einen Orixá, sondern für diesen oder jenen Heiligen. Das ging teilweise so weit, dass sie in den Kirchen regelrechte afrikanische Riten abhielten, auf den Atabaques trommelten, in Trance fielen und so weiter. Am Anfang wurde das sogar toleriert, weil die Priester dachten, so würden sie sich besser an diekatholische Religion gewöhnen. Bis sie begriffen, dass so kein einziger Schwarzer katholisch wurde, sondern dass sie im Gegenteil ihre eigene Religion weiter pflegten.«

Heute sind Katholizismus und Candomblé in der Volksfrömmigkeit Bahias unauflöslich vermischt. Die Heilige Barbara, deren Vater vom Blitz erschlagen wurde, als er sie wegen ihres Übertritts zum Christentum töten wollte, ist die Gewittergöttin Iansã. Der von den Toten auferstandene Lazarus ist Omolu, der Gott der ansteckenden Krankheiten. Und Oxum, die Fruchtbarkeitsgöttin, ist die Maria der unbefleckten Empfängnis. Die Leiterinnen oder Leiter der Candomblé-Terreiros, die Ialorixàs oder Babalorixàs, heißen im Volksmund auch schlicht Mutter oder Vater der Heiligen und wer in den Kult initiiert ist, wird Sohn oder Tochter der Heiligen.

Noch bis in die siebziger Jahre wurden die afrikanischen Kulte polizeilich verfolgt. Doch heute ist der Candomblé im Zuge eines erstarkten schwarzen Selbstbewußtseins populärer denn je. Allein in der 2-Millionen-Stadt Salvador gibt es 800 offiziell registrierte Candomblé-Terreiros, inoffiziell sind es über 2000. Bekannte Künstlerinnen und Intellektuelle, Politiker und Wirtschaftsbosse bekennen sich offen zu dieser Naturreligion.

Die Stadtverwaltung ließ vor drei Jahren in einem Park riesige Harzfiguren der Orixà-Gottheiten aufstellen – so etwas gibt es bisher nicht einmal in Afrika. Beim Fest der Meeresgöttin Iemanjà, einem der größten Volksfeste der Stadt, versäumt es kein Stadtpolitiker, der afrikanischen Göttin seine Reverenz zu erweisen. Und die vom Candomblé inspirierte Axé-Musik ist durch Stars wie Daniela Mercury oder den Auftritt des Percussion-Projektes Olodum in einem Michael-Jackson-Video längst auch international erfolgreich.

Die starke Präsenz des Candomblé in einer an westlichen Werten orientierten Gesellschaft wie Brasilien ist ein erstaunliches Phänomen. Denn schließlich handelt es sich hier um eine Naturreligion mit einer magischen Weltanschauung. In den Ritualen wird ein Kontakt hergestellt zwischen dem Diesseits, der sichtbaren Erde, dem Aiyê, und dem Jenseits, der heiligen Matrix des Lebens, dem Orun. Nach der Schöpfungslegende der Yoruba schickte einst der oberste Gott, Olodumaré, die Orixàs los, damit sie die Erde erschaffen und besiedeln. Nachdem sie Städte gebaut und Nachkommen in die Welt gesetzt hatten, kehrten sie wieder ins Jenseits zurück, gaben ihre materielle Hülle auf und verwandelten sich in eine reine Kraft, das Axé. An diesem Axé können die Menschen Anteil haben, wenn sie in ihren Ritualen die Gottheiten auf die Erde rufen. Das geht aber nur, wenn die Söhne und Töchter der Heiligen in Trance fallen, ihr eigenes Ich aufgeben, damit die Gottheiten von ihrem Körper Besitz ergreifen können. Ist das ein Weltbild für moderne, aufgeklärte Menschen des dritten Milleniums? Die Sportlehrerin Marcela Freitas, seit sieben Jahren in den Candomblé-Kult initiiert, sucht nicht nach einer rationale Erklärung für ihre Tranceerfahrungen. Im Candomblé gehe es weniger darum, etwas zu glauben oder verstandesmäßig erklären zu können, sondern um ein Wissen, das auf persönlicher Erfahrung beruht. Wie sie es erlebt, wenn ein Orixà im Ritual von ihrem Körper Besitz ergreift, schildert sie so:

«Es gibt bewußte, unbewußte und halb-bewußte Inkorporationen. Bei den unbewussten ist es so, dass die Leute hinterher aufwachen und sich an nichts erinnern. Bei mir waren es bisher immer bewusste Inkorporationen, das heißt, ich bin mir die ganze Zeit über im Klaren, was geschieht, ich sehe und höre alles, aber ich kann nicht für mich selbst handeln. Einmal sollte ich zum Beispiel Bonbons an die Kinder austeilen. Und ich wollte selbst eines dieser Bonbons essen, weil ich die ich sehr gerne mag, aber das ging nicht. Das ist schwer zu beschreiben, ich konnte eben einfach nicht für mich selbst handeln. Und so ist es auch mit den anderen Dingen, da kommen Worte aus deinem Mund und du redest über Sachen, von denen du keine Ahnung hast. Es ist der Orixà, der dann durch mich redet, er gibt Leuten Ratschläge, spricht mit ihnen über ihr Leben, was sie früher gemacht haben und so weiter, Leute, die ich gar nicht kenne und noch nie gesehen habe. Das bin dann nicht ich.«

Im Candomblé gibt es keine heilige Schrift, sondern eine ausschließlich mündlich überlieferte, sehr umfangreiche Sammlung von Geschichten aus dem Leben der Orixás, das Ifà. Um herauszufinden, was in einer bestimmten Situation zu tun ist, befragen die Ialorixàs, die obersten Autoritäten der Candomblé-Gemeinschaften, das Ifà wie ein Orakel. Sie werfen 16 kleine Muscheln, sogenannte Buzios, und je nachdem wie sie fallen, weisen sie auf eine bestimmte Geschichte oder einen bestimmten Spruch hin. Die wichtigste und erste Frage ist immer die nach dem persönlichen Orixà, denn jeder Mensch gilt als Kind, als Nachkomme einer bestimmten Gottheit. Aber während in Afrika die Yoruba-Religion bis heute tatsächlich ein Ahnenkult ist, hat sie sich in Brasilien sozusagen modernisiert: Der Orixà eines Menschen ist kein vergöttlichter Urahn mehr, sondern eher Ausdruck seines Wesens, seiner Charaktereigenschaften. In gewisser Weise ähnelt das System den Sternzeichen der Astrologie oder den Archetypen aus der psychoanalytischen Theorie C.G. Jungs: Die Menschen sind verschiedenen Wesenstypen zugeordnet, die die jeweilige Gottheit repräsentiert. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass es gerade die Bedingungen der Sklaverei möglich machten, dass aus dem alten Ahnenkult, der auf leiblicher Abstammung beruhte, eine Religion wurde, die grundsätzlich für alle Menschen offen ist. Antonietta Nunes:

«Die Sklaven mussten vieles den Gegebenheiten anpassen. Sie hatten nicht die Freiheit und auch nicht die Räumlichkeiten, ihre Religion so auszuüben, wie bisher. Zum Beispiel wird in Afrika jeder Orixà in einer bestimmten Stadt verehrt. Hier ging das natürlich nicht, deshalb haben sie, wenn sie ein Gelände gefunden hatten, dort Häuser für die einzelnen Orixàs gebaut, die diese verschiedenen Städte repräsentierten. Aber eben alles an einem Ort. »

Weil die Familienstrukturen der aus Afrika verschleppten Menschen zerstört wurden, war schon nach wenigen Generationen nicht mehr klar, wer ursprünglich aus welchem Dorf kam, und so musste immer häufiger das Buzios-Orakel eingesetzt werden, um herauszufinden, wessen Gottes Kind man ist. Der afrikanische Götterhimmel mit seinen über 200 Orixàs ist in Brasilien auf etwa 16 wichtige Gottheiten zusammengeschrumpft. Marcela zum Beispiel ist Tochter von Iansã, der temperamentvollen und leidenschaftlichen Gewittergöttin.

«Es gibt Orixas, von denen sage ich, das hat überhaupt nichts mit mir zu tun. Ich weiß, das bin ich nicht. Und dann gibt es Geschichten von Iansã, bei denen sage ich, Donnerwetter, das genau ist es, das stimmt. Und dann mache ich es so. Ich meine, ich habe damit meine Identität gefunden. Auch wenn es theoretisch natürlich andersrum ist, denn es istja der Orixà, der dich macht. Manche sagen auch, dass der Orixà dich als seine Tochter auswählt, wenn du geboren wirst, andere wiederum sagen, dass sich das erst mit der Zeit rausstellt.«

Wer den eigenen Orixà kennt, kann durch entsprechende Rituale und Opfergaben sein eigenes Axé stärken, die Kraft des Orixàs für sich selbst nutzen. Je nachdem ob man eine zögerliche und bedächtige Tochter der Erdgöttin Nana ist oder eine aggressive und mutige Tochter des Kriegsgottes Ogum, gibt es verschiedene Wege zur Lösung persönlicher Probleme. Man muss sich selbst mit dem eigenen Orixà identifizieren. Der 30jährige Automechaniker Fabio Argolo de Souza zum Beispiel ist ein Sohn des Gottes Oxossi, und er beschreibt ihn durch Charaktereigenschaften, die er auch für seine eigenen hält:

«Oxossi, das ist ein Krieger, ein Mann der Wälder, der Urwälder. Er plant nichts, er ist kein Landwirt, sondern er ernährt sich von dem, was eben grade da ist, was ihn umgibt, es ist ein Jäger und Sammler. Er jagt nur dann, wenn er Hunger hat, nur wenn er was zum Essen braucht.«

Das System der Orixàs ist außerordentlich vielschichtig. Es gibt zu jeder Gottheit Hunderte von Geschichten und Legenden, und je nach Situation und Lebensalter versammelt jeder Orixà eine Fülle von Möglichkeiten in sich. Oxum zum Beispiel, die sanfte und eitle Fruchtbarkeitsgöttin, die sich selbstverliebt im Spiegel betrachtet, wird in manchen Legenden zu einer gefährlichen Kriegerin, die ihren Spiegel gegen die Sonne wendet und so als Waffe benutzt, um ihre Gegner zu blenden. Zu wissen, wessen Gottes Kind man ist, bietet deshalb noch keine einfachen Lösungen. Es muss sich im Alltag bewähren, und in vielen Situationen ist ein erneuter Orakelspruch notwendig. Außerdem leiten sich daraus eine Reihe von komplizierten Verpflichtungen ab: Man muss seinem Orixà regelmäßig Essen bringen, wobei natürlich die Vorlieben der Gottheit zu berücksichtigen sind – Iansã zum Beispiel verabscheut Kürbis, und der Meeresgöttin Iemanjà darf man auf keinen Fall Süßwasserfische servieren. Genauso hat jeder Orixà eine Lieblingsfarbe, Lieblingssymbole, Lieblingsmusik und so weiter. Für den normalen Candomblé-Adepten ist es unmöglich, das gesamte System von rituellen Zusammenhängen zu überblicken, und im Zweifelsfall wird immer die Ialorixà konsultiert, die die rituellen Formeln kennt und das Buzios-Orakel befragen kann.

«Niemand kennt ja die Religion so gut wie die Mutter der Heiligen. Die Zusammenhänge zwischen den Riten sind so kompliziert, es können gar nicht alle sämtliche Geheimnisse, Rituale und Geschichten kennen, all die Sachen, die für jeden Orixà getan werden müssen. Jeder Orixà hat ein eigenes Essen, das auf bestimmte Weise zubereitet werden muss, einen eigenen Ritus mit Formeln in der Yoruba-Sprache, es ist nicht so, dass du mal eben ein Buch lesen kannst und dann weißt, wie Candomblé funktioniert.«

In den letzten Jahren ist der Candomblé in Bahia zu einem wichtigen Bestandtteil der Tourismus-Industrie geworden. Einschlägige Reiseführer empfehlen den Besuch bei einem Ritual als unverzichtbaren Bestandtteil einer Salvador-Reise, und es fehlt auch nicht an Reiseführern, die Touristen gegen gutes Geld dorthin bringen. Doch wer sich nicht näher informiert, ist hinterher meistens enttäuscht. So ging es auch Hans Conradi aus Süddeutschland:

«Ich würde es nicht noch einmal machen und ich kann's auch nicht empfehlen, sondern ich müsste sagen, okay, wer sich diese Dinge, sagen wir mal, Rhythmische Tänze über Stunden hinweg anschauen will, der kann natürlich hingehen, aber wer das nicht will, der braucht das auch nicht unbedingt gesehen zu haben. Das ist ja ein sagen wir mal, ein ständiges Getrampel und Singsang, also davon in Trance zu fallen, scheint mir sehr schwierig zu sein. Deswegen habe ich schwere Zweifel, ob diejenigen, die sich da jetzt zu Boden fallen ließen und die Augen verdreht haben, ob das jetzt wirklich echt war. Kann ich mir also kaum vorstellen.«

Die Candomblé-Gemeinden haben nichts dagegen, wenn die »Gringos« zu ihren öffentlichen Ritualen kommen, allerdings nehmen sie auch keine Rücksicht auf deren Bedürfnisse. Die Terreiros liegen meist abgelegen in ärmlichen Wohnvierteln, die Kulte werden auch nicht öffentlich angekündigt, so dass sich der Andrang Neugieriger ohnehin in Grenzen hält. Immerhin kann man sicher sein, hier eine authentische Veranstaltung zu erleben – eine authentisch afrikanische. Der französische Ethnologe und Fotograf Pierre Verger hat nachgewiesen, dass die Rituale in Brasilien auch heute noch oft bis ins kleinste Detail mit den entsprechenden Kulten in Afrika übereinstimmen. Von 1930 bis zu seinem Tod 1996 hat er die Religion der Orixàs sowohl in Afrika als auch in Brasilien studiert und sich im Lauf der Zeit auch selbst in den Kult initiieren lassen. Seine Bücher und Fotobände sind bis heute eine der wenigen zuverlässigen schriftlichen Quellen über diese Religion. Durch seine Arbeit brachte Verger einen interkontinentalen Austausch zwischen den brasilianischen und den afrikanischen Kulten in Gang, so dass inzwischen die Studienreise nach Nigeria zu einem festen Bestandteil der Ausbildung vieler brasilianischer Candomblé-Leiterinnen und Leiter gehört. Antonietta Nunes hat die Anfänge davon mitbekommen:

«1962 arbeitete ich im Zentrum für afro-orientalische Studien und wir haben Professoren der Universität Ile Ifê in Nigeria ein, damit sie hier in Salvador Kurse in Yoruba abhalten. Für diese Kurse haben sich auch viele Väter und Mütter der Heiligen aus den Candomblés eingeschrieben, und ich hatte die Aufgabe, am Anfang zu übersetzen, der Professor sprach englisch, und ich übersetzte ins Portugiesische. Aber als er dann einige Worte in Yoruba sprach, stellte sich heraus, dass die anderen ihn verstanden, denn es war die Sprache aus ihren Kulten. Sie haben also über Jahrhunderte hinwegihre Sprache erhalten. Nur dass es ein Yoruba aus dem 18. Jahrhundert war. Aber sie konnten sich ohne Probleme verständigen, und ich als Übersetzerin war vollkommen überflüssig. Das war wirklich beeindruckend.«

Eine eigene Organisationsstruktur entstand im brasilianischen Candomblé erst, als die katholischen Priester immer strenger gegen die afrikanische Riten unter dem Dach der Kirche vorgingen. Antonietta Nunes:

«Die ersten Terreiros entstanden, soviel man weiß, am Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Gemeinschaft des Casa Branca, die sich organisierte und begann, eine Struktur von Müttern und Töchtern der Heiligen aufzubauen, eine Struktur von Initiation und all den anderen Riten innerhalb des Terreiros. Das war sehr schwierig, denn es musste in den freien Stunden, am Abend geschehen, weil tagsüber ja gearbeitet wurde. Aber die Organisation der ersten Terreiros hier in Bahia geht auf die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurück.«

Ialorixà, Leiterin eines Terreiros, wird man nicht durch eine formale Ausbildung und Studium, sondern durch jahrelanges Leben in der kultischen Gemeinschaft. Als erfolgreich gilt eine Ialorixá, wenn ihr Terreiro viele Initiierte hat und wenn viele bei ihr den Rat des Buzios-Orakels suchen. Manche Terreiros sind große Gelände mit mehreren Gebäuden, andere funktionieren im Hinterzimmer von Wohnhäusern, wie etwa das von Anice de Oxossi, bei der man erst Wohnzimmer und Küche durchqueren muss, um in den festlich geschmückten Kultraum zu kommen. Meistens wird das Amt der Ialorixà von Mutter auf Tochter weitergegeben. So war es auch bei ihr:

«Dieses Terreiro funktioniert seit über vierzig Jahren. Ursprünglich gehörte es meiner Mutter, und nach ihrem Tod habe ich die Leitung übernommen. Alles, was ich weiss, habe ich von ihr und von meiner Ialorixà, meiner Mutter der Heiligen.«

Im Interview ist Mutter Anice sehr kurz angebunden, und nach zehn Minuten beschließt sie, mit meinen theoretischen Fragen würde ich ohnehin nicht weiterkommen. Stattdessen lädt sie mich ein, ihr bei der Vorbereitung des Essens für das abendliche Ritual zuzuschauen. Immerhin gibt sie mir ein Buch über den Candomblé mit, allerdings ohne mir große Hoffnungen zu machen.

«Candomblé lebt von der Erinnerung, da liegt das Fundament. Was in Büchern geschrieben wird, das ist alles uninteressant.«

Es waren vor allem Frauen, die in Brasilien die Neuorganisation der afrikanischen Kulte in die Hand nahmen, und bis heute werden etwa zwei Drittel aller Candomblé-Terreiros, und darunter die einflussreichsten, von Frauen geleitet. Unter der Hand haben sie dabei auch mit einigen patriarchalen Aspekten aufgeräumt, die den Kult in Afrika bis heute prägen. Dort nämlich sind die Ialorixàs nur für die praktische Seite des Kults verantwortlich, während das Ifà, das heilige Geheimwissen, ausschließlich von Männern gelehrt wird. Doch in Brasilien hat sich diese Hierarchiestufe nie richtig durchgesetzt.

Es gibt aber im Candomblé auch keine Geschlechtergleichheit im modernen Sinn. Frauen bereiten das Essen zu, während Männer die Atabaques trommeln oder die Opfertiere schlachten. Frauen und Männer haben auch unterschiedliche Orte und Gruppen. So ist zum Beispiel die traditionsreiche Karnevalsgesellschaft Filhos de Gandy, die Söhne Gandhis, ein reiner Männerverein. Ihre Umzüge sind heute eine der Attraktionen im Karneval. Tausende weißgekleidete Männer – weiß ist die Farbe des Friedensgottes Oxalà – ziehen dann singend und tanzend durch die Straßen. Mit ihren blauen Plastikperlenketten und den weißen Turbanen, eine Referenz an den indischen Pazifisten Mahatma Ghandi, geben sie ein beliebtes Motiv für die Erinnerungsfotos der Touristen ab.

Die aus dem Candomblé kommenden Karnevalsgesellschaften, die sogenannten Afoxés, sind erst seit 15 Jahren zum offiziellen Festprogramm zugelassen. Seither aber haben sie viel zur Popularisierung der Religion beigetragen, nicht nur durch ihre Musik, sondern auch durch zahlreiche soziale Projekte, die sie mit großem Erfolg betreiben. Auch dadurch wächst das Selbstbewusstsein der Candomblés, und immer deutlicher fordern sie ihre Anerkennung als eigenständige Religionsgemeinschaft. Viele einflussreiche Ialorixàs setzen sich heute dafür ein, die eigenen katholischen Anteile aufzugeben: Sie verbannen die Heiligenstatuen aus ihren Kulträumen und wirken darauf hin, dass Kinder aus der Gemeinschaft nicht mehr getauft werden. Die meisten Baianer halten aber trotzdem an ihrer Doppelreligiosität fest, so auch Fabio:

«Der Synkretismus ist eben entstanden, und es ist schwer, denen, die gelernt haben, dass diese oder jene Madonna dieser oder jener Orixà ist, beizubringen, dass sie jetzt das Gegenteil glauben sollen. Es gibt zwar diese Versuche vieler Mütter oder Väter der Heiligen, und es gelingt ihnen auch zum Teil, aber doch nur bei denen, die sehr eng mit dem Kult verbunden sind. Ich sehe kein Problem im Synkretismus, er ist eben eine Tatsache, und ich sehe darin auch nichts Negatives.«

Auch Cintia Martin, Lehrerin an einer katholischen Schule, hält gerade die Religionsvermischung für eine der Stärken der brasilianischen Religiosität.

«Zum Beispiel ich habe keine Initiation gemacht. Ich kenne den Candomble, ich respektiere den Candomble, aber ich habe keine Initiation. Aber ich habe eine Mutter von Heiligen, eine Ialorixa, das ich gehe jedes Jahr zum Buzios spielen, das heißt Ifa, und ich glaube. Weil baianische Leute haben diese afrikanisch-katholische Mentalität, ja, wir sind nicht 100 Prozent katholisch, aber wir sind nicht 100 Prozent von dem Candomble. Wir sind gemixt.«

Selbst die katholische Kirche hält sich mit ihrer Kritik an der Religionsvermischung weitgehend zurück. Dom José Carlos, stellvertretender Erzbischof von Salvador:

«Wir sind immer so logisch und intellektuell, wollen die Sachen definieren. Aber hier haben sich Seite an Seite kulturelle und religiöse Werte entwickelt, und wir wissen nicht genau, wie weit das geht, was daran authentisch ist. Wir sollten versuchen, zusammenzuleben, und den Rest Gott überlassen. Es ist nicht meine Art, darüber wissenschaftliche Diskussion zu führen, sondern ich finde es wichtiger, angesichts dieser Realität, einer historisch gewachsenen Situation, eine angemessene pastorale Praxis zu finden.«

Faktisch heißt das – jeder macht es so, wie er es für richtig hält. Antonietta Nunes:

«Verschiedene Priester haben dazu verschiedene Meinungen. Es gibt Priester, die haben nichts dagegen, vor einem Candomblé-Fest eine Messe zu feiern, obwohl sie genau wissen, um was es eigentlich geht, mit all den Baianas, den Frauen in ihren kultischen Gewändern, und sie finden auch nichts dabei, dass im Anschluß an die Messe eine Prozession zum Candomblé-Terreiro stattfindet. Andere Priester dagegen lassen so etwas unter gar keinen Umständen zu, sie akzeptieren und wollen das nicht.«

In der Diskussion über die Vermischung von Candomblé und Katholizismus geht es nicht nur darum, gesellschaftlichen Einfluß abzustecken, sondern auch um inhaltliche Unterschiede. So gibt es im Candomblé, anders als im Christentum, keine Moralvorstellungen, kein Konzept von gut und böse, keinen Sündenbegriff. Exu zum Beispiel, der Orixà des Feuers, wird im allgemeinen mit dem Teufel gleichgesetzt. In der Tat ist er das Böse, er sät Intrigen und Missgunst zwischen den Menschen, und wenn irgendwo ein Unglück geschieht, ein Streit ausbricht oder überhaupt irgend etwas schief geht, dann steckt bestimmt Exu dahinter. Doch während der Teufel im Christentum ein Gegner ist, der bekämpft und ausgetrieben werden muss, geht es im Candomblé darum, Exu zu besänftigen und ruhig zu halten. Vor jeder Unternehmung wird zu allererst ihm ein Opfer gebracht, denn man geht davon aus, wenn Exu zufrieden ist, hat er weniger Lust, Unheil zu stiften. Wo es keine Moral gibt, gibt es auch keine Verpflichtungen für die Menschen. Man opfert den Göttern nicht oder nimmt an den Ritualen teil, um »gut« zu sein, sondern um ein konkretes Anliegen umzusetzen. Wer keine Probleme hat, braucht auch nicht religiös sein, meint Fabio:

«Du bist zu überhaupt nichts verpflichtet. Jeder Mensch hat eine religiöse Sensibilität, manche mehr, manche weniger. Manche spüren die Gegenwart ihres Orixàs gar nicht, kennen keine übersinnlichen Kräfte. Wir bitten die Orixàs nur dann um etwas, wenn wir eine schwierige Phase haben, eine Herausforderung bestehen müssen. Dann gehen wir hin, reden mit unserem Orixá, bitten um Hilfe, Ratschläge, und wenn wir die Rituale richtig ausführen, antwortet er uns. Aber solange die Zeit nicht gekommen ist, musst du gar nichts tun. Du kannst Sohn deines Heiligen sein, und es können 20, 30 Jahre vergehen, bis du die Notwendigkeit verspürst, etwas in dieser Art zu machen.«

Vielleicht ist das auch der Grund, warum die meisten Menschen in Bahia keine Probleme damit haben, sich beiden Religionen zugehörig zu fühlen. Das Christentum ist eine Sache des Glaubens, der Moral, und der Candomblé ist eine Sache der Erfahrung, der konkreten Hilfe im Alltag – wenn man sie denn braucht. Für die meisten Menschen im Nordosten Brasiliens jedenfalls scheint diese Religion im Doppelpack genau das Richtige zu sein.

(Diese Sendung lief am 18. Juli 2000 im Hessischen Rundfunk /hr2)

Lesetipp: Petra Schaeber: Die Macht der Trommeln