Antje Schrupp im Netz

Nur einen Mausklick entfernt

Vom Internet wird oft als »virtueller« Welt gesprochen, die mit dem »echten« Leben nicht viel zu tun habe oder sogar davon ablenke. Mich überzeugt diese Unterscheidung nicht. Internet-Beziehungen sind keineswegs künstlich oder gar körperlos: Es ist mein ganz realer Körper, der vor dem Computer sitzt und in die Tasten haut, es ist mein Herz, das schneller schlägt, wenn ich dabei eine neue Erkenntnis gewinne, und mein Blut, das mir zu Kopf steigt, wenn mich eine Mail ärgert, wenn ein Text von mir Widerspruch und Kontroversen auslöst.

Zum Beispiel schreibe ich diesen Text im Zug auf der Rückfahrt von Zürich, wo an diesem Februar-Wochenende ein Treffen der Mailingliste »Gutesleben« stattfand: zum ersten Mal habe ich dort Menschen getroffen, die mir aus dem Internet, wo wir seit fünf Jahren gemeinsam politische Themen diskutieren, schon lange vertraut sind. Sogar einen gemeinsamen Text haben wir schon publiziert (dokumentiert unter www.gutesleben.org). Aber persönlich gesehen hatte ich etwa die Hälfte der Gruppe noch nie. Trotzdem stellte sich die aus dem Internet gewohnte Vertrautheit auch in der persönlichen Begegnung schnell her – wir kannten uns eben wirklich schon. Es war ein schönes, arbeitsames und spannendes Wochenende.

Das Internet ist also überhaupt kein »virtuelles« Gebiet, sondern lediglich eine neue Technik, ein neues Medium der Kommunikation. Eines verändert sich aber tatsächlich, und das sind die Rahmenbedingungen: Das Sich-Äußern am Computer bringt sozusagen die gewohnte Trennung von privat und öffentlich durcheinander. Schreibe ich einen Brief, muss ich umständlich eine Adresse draufschreiben, was mir vor Augen führt, wer ihn lesen wird. Stehe ich auf einer Bühne und spreche ins Mikrofon, weiß ich automatisch, dass dies eine Rede für ein größeres Publikum ist. Liege ich im Bett und telefoniere ich mit meiner Freundin, ist allein aufgrund dieses Umfeldes klar, dass es ein eher privates Gespräch wird.

Im Internet ist das anders. Die E-Mail an die Freundin sieht nicht anders aus als der Newsletter, der an tausende Adressen gleichzeitig geht. Ich kann öffentlich zur ganzen Welt sprechen – zum Beispiel mit einem neuen Eintrag in meinem Webtagebuch, dem Blog, oder indem ich einen neuen Text auf meine Homepage stelle – während ich noch ungewaschen und im Schlafanzug mit meinem Laptop am Küchentisch sitze.

Das birgt natürlich auch Gefahren. So habe ich zum Beispiel erlebt, dass es auf Mailinglisten zu Irritationen oder gar zu handfesten Konflikten gekommen ist, weil das schnelle Hin und Her von Mails zu Missverständnissen geführt hat, auf die man dann – anders als im mündlichen Gespräch – nicht sofort reagieren konnte. Im Internet können auch neue Hierarchien entstehen, etwa zwischen denen, die häufig am Computer sind und sich deshalb auch oft äußern können und anderen, die weniger Zeit und Möglichkeiten haben, sich einzumischen: Man sieht eben die anderen nicht, man weiß nichts über ihre Umstände, obwohl die Kommunikation fast so spontan und schnell möglich ist, wie beim gesprochenen Wort. Daher braucht es Übung und vielleicht auch Benimmregeln für den Umgang mit dieser Technik.

Die positiven Möglichkeiten überwiegen das aber bei weitem: Die weltweite Vernetzung zum Beispiel – ich kann mit anderen in der Diskussion bleiben, egal wo wir leben, ob wir nach Mexiko auswandern oder gerade für ein paar Monate in Amerika herumreisen. Im Internet kann ich unzensiert veröffentlichen, ohne dass das nennenswert Geld kostet oder große technische Kenntnisse voraussetzt. Die Hürden zwischen dem Gedanken im eigenen Kopf und seiner weltweiten Zugänglichkeit sind praktisch gleich null. Niemand ist mehr angewiesen auf Redakteure, Verlage, Universitäten oder sonstige etablierte Kanäle, die früher darüber entschieden, was der öffentlichen Aufmerksamkeit wert ist und was nicht. Es liegt auf der Hand, dass das gerade für Denkbewegungen wie den Feminismus, die außerhalb des Mainstreams liegen, grandiose Möglichkeiten bietet.

Ein großer Pluspunkt ist die Möglichkeit, konkrete Beziehungen zum Ausgangspunkt für öffentliches Publizieren zu machen, wie es zum Beispiel beim Internetforum www.bzw-weiterdenken.de für Philosophie und Politik der Fall ist. Hier dokumentieren wir – eine Gruppe von derzeit neun Redakteurinnen – Texte, die aus Diskussionen unter uns Redakteurinnen oder auch zwischen Autorinnen und Redakteurinnen und Leserinnen entstehen. Die Seite steht frei zugänglich im Internet, richtet sich aber in erster Linie an die Menschen, mit denen wir in einer gemeinsamen Denk-Beziehung stehen oder die sich mit uns in eine Beziehung setzen möchten. Es soll keine Seite sein, die »konsumiert« werden kann. Denn es ist schon so, wie die französische Philosophin Simone Weil einmal schrieb: »Ein Mensch, der etwas Neues zu sagen hat – denn die Gemeinplätze bedürfen keiner Aufmerksamkeit -, kann zuerst nur bei denen Gehör finden, die ihn lieben.«

Auf diese Weise kann das Internet Beziehungen stiften, aber eben auch bestehende Beziehungen sichtbar machen und ihnen eine öffentliche Bedeutung geben. Dazu muss man keine Partei oder Institution gründen, ein einfaches Redaktionssystem, auf das jede per Passwort vom heimischen Computer aus zugreifen kann, genügt. Nicht zufällig sind die »Links«, also eben Verbindungen per Mausklick, das ein wichtigste Instrument. Sie stellen Beziehungen her zwischen Text und Autorin, zwischen einem neuen und einem alten Text. Artikel stehen nicht mehr »beziehungslos« nebeneinander, sondern sind eingebunden in einen Kontext, der anzeigt, dass Diskussionen nicht fix sind, sondern komplex, verwoben und lebendig: »Beziehungsweise weiterdenken« eben.

Deshalb halte ich die üblichen Rankings, die die Relevanz von Internetseiten nach der Anzahl der Zugriffe bewerten (und bei denen die Männer die Nase weit vor den Frauen haben), für nicht sehr aussagekräftig. Der Wert und der Nutzen des Internet – auch für die feministische Szene – liegt nämlich gerade darin, dass Zahlen hier nicht mehr der Maßstab sind. Die Qualität einer Mailingliste hängt eben überhaupt nicht davon ab, wie viele sich da angemeldet haben, sondern wer. Es gibt inzwischen eine Fülle von kleinen, feinen feministischen Seiten und Blogs, die zwar nicht von Hunderttausenden gelesen werden, aber vielleicht von einigen hundert oder tausend, die hier eine echte Auseinandersetzung suchen und Inspiration finden. Und selbst wenn es nur zwei Menschen auf der ganzen Welt geben sollte, die sich für ein bestimmtes Thema interessieren: Hier können sie sich finden.

Eine Internetseite, die auch nur einen Menschen dazu bringt, alte Denkgewohnheiten in Frage zu stellen, hat viel mehr bewirkt als eine Seite, die zwar von vielen angeklickt wird, aber nur, weil sie sich vergewissern wollen, dass sie sowieso Recht haben. Das Schöne ist: Beides ist im Internet nur einen Mausklick entfernt. Es liegt an jeder einzelnen, wohin sie sich »vernetzt«.


in: FAMA, Mai 2008