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Alice Rühle-Gerstel: Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit. Ein Prag-Roman, Aviva-Verlag 2007, 24,50 Euro

Bild Die 1894 geborene Journalistin und Psychologin Alice Rühle-Gerstel erzählt in diesem Roman die Geschichte einer jüdischen Kommunistin, die 1935 Deutschland verlässt und in ihre Geburtsstadt Prag zurück geht. Dort engagiert sie sich in der Hilfe für Flüchtlinge aus Deutschland, arbeitet als Übersetzerin und Journalistin. Die Leserin hat Teil an den Gedanken, Hoffnungen, Zweifeln und Überzeugungen dieser Frau, die im Alter von 40 Jahren vor einer ganzen Reihe existenzieller Fragen steht. Wie hält sie es mit der Liebe – zwischen dem kommunistischen Ehemann, der in Deutschland im Gefängnis der Nazis sitzt und dem politisch »ungefestigten«, aber schöngeistigen und seelenverwandten Chefredakteur in Prag, in den sie sich prompt verliebt? Wie hält sie es mit der Politik – angesichts einer kommunistischen Partei, die immer weiter von den schönen Idealen abweicht, um die es der Protagonistin Hanna geht? Wie hält sie es mit dem eigenen Leben – angesichts eines reichen Bruders, auf dessen als »Kapitalist« verdientes Geld sie nicht zurückgreifen will, während es ihr als deutsche Emigrantin andererseits verboten ist, in der Tschechoslowakei selbst Geld zu verdienen?

Der Roman hat teilweise autobiografische Züge, denn die Autorin selbst war 1932 nach 14 Jahren in Deutschland nach Prag zurückgekehrt, allerdings gemeinsam mit ihrem Mann, dem bekannten Kommunisten Otto Rühle, der jedoch inzwischen wegen seiner Stalin-Kritischen Meinung aus der KPD ausgeschlossen worden war. In Prag arbeitete Rühle-Gerstel wie ihre Protagonistin als Journalistin, 1940 folgte sie Rühle nach Mexiko, wohin dieser schon früher emigriert war. Die beiden waren dort mit Frida Kahlo und Leo Trotzki befreundet, für letztere machte Rühle-Gerstel im mexikanischen Exil die Pressearbeit. Doch das Leben in der Emigration zermürbte sie, 1942 wählte sie, gerade 49 Jahre alt, den Freitod.

Der in Mexiko in nur drei Monaten entstandene Emigrationsroman »Der Umbruch« ist in vielerlei Hinsicht auch heute, im Abstand von über 60 Jahren, eine lehrreiche Lektüre. Fast schon ein wenig sehnsüchtig ruft er in Erinnerung, wie »politisch« viele Frauen damals dachten, und zwar in einem weltumspannenden Sinn, auf der Suche nach wirklicher Revolution und im Engagement für ein gutes, ganz anderes Leben. Ebenfalls wird deutlich, wie freiheitlich in diesem Milieu damals schon die Vorstellung von Liebe war, wie offen über Treue nachgedacht wurde, wie wenig Moral im Spiel war, wie ernsthaft dieses Thema diskutiert und bedacht wurde. Im Vergleich dazu sind die heutigen, medial inszenierten Bedeutungen von »Politik« und »Liebe« sehr flach, klischeehaft, spießig und belanglos.

Was Rühle-Gerstel ebenfalls schildert, ist das schwere Los der Emigration, das heute im Rückblick oft verloren gegangen ist angesichts der vielen Emigranten und Emigrantinnen in dieser Zeit. Ihr Los und Leiden, ihre erzwungene Untätigkeit, die finanziellen Sorgen, die Unsicherheit der Lebensplanung – all dies ist später angesichts des ungleich höheren Leidens der in den KZs Gefolterten und Ermordeten in den Hintergrund getreten.

Alles in Allem ein sehr empfehlenswertes Buch, das – neben all dem Lehrreichen, das es zu bieten hat – im Übrigen auch noch eine ganz spannende und teilweise auch amüsante Liebesgeschichte erzählt.