Antje Schrupp im Netz

»Ich habe lange gezögert, ein Buch über die Frau zu schreiben«

zum 100. Geburtstag von Simone de Beauvoir

»Ich habe lange gezögert, ein Buch über die Frau zu schreiben. Das Thema ist ärgerlich, besonders für die Frauen; außerdem ist es nicht neu. Im Streit um den Feminismus ist schon viel Tinte geflossen, zur Zeit ist er fast beendet.«

So beginnt Simone de Beauvoir ihr Buch »Das andere Geschlecht« erschienen 1949. »Der Streit um den Feminismus ist fast beendet« – das sagen auch heute wieder viele, aber so einfach ist es wohl nicht. Irgendwie scheint das mit dem Feminismus immer komplizierter, als man zunächst denkt. Und auch das Zögern, von dem Simone de Beauvoir spricht, ist wohl vielen von uns gut bekannt. Hängt nicht auch uns dieses »Frauenthema« manchmal zum Hals heraus?

In diesem Jahr wäre Simone de Beauvoir hundert Jahre alt geworden. Ein guter Anlass, an diese kontroverse Philosophin zu erinnern, die mit ihrem Buch »Das andere Geschlecht« gewissermaßen zur Stichwortgeberin einer ganzen feministischen Epoche geworden ist. Nämlich der Epoche der Gleichstellung der Frauen mit den Männern und ihrer vollen Integration in das öffentliche Leben. Zwar ist diese Gleichstellung faktisch noch nicht überall erreicht. Aber dass sie gewollt ist, wird heute nicht mehr bestritten, und ihre Durchsetzung ist an vielen Stellen sogar bereits gesetzlich verankert.

Vor hundert Jahren war das ganz und gar anders. Niemand hat zur Zeit von Beauvoir bezweifelt, dass Frauen und Männer unterschiedliche soziale Aufgaben haben, weder Frauen noch Männer, und auch die meisten Frauenrechtlerinnen nicht. Der Streit um den Feminismus, der damals seinem Ende zuging und auf den Simone de Beauvoir sich in der Einleitung ihres Buches bezieht, war der um das Wahlrecht: 1944 war in Frankreich das Frauenwahlrecht eingeführt worden – 25 Jahre später als in Deutschland oder den USA. Eine wirklich große Epoche in der Geschichte der Frauenbewegung ging damit zu Ende. Und auch viele Feministinnen hielten das Thema nun für erledigt. Sie dachten: Wenn Frauen erst politische Mitbestimmungsrechte hätten, dann würde sich der Rest von selbst lösen.

Simone de Beauvoir hingegen zeigt, dass das ein Irrtum war, dass sich mit dem Wahlrecht die »Frauenfrage« keineswegs von selbst erledigte. Anhand von unzähligen Beispielen weist sie nach, dass die Benachteiligung der Frauen sich nicht auf die politischen Rechte beschränkte, sondern durch alle Bereiche von Kultur, Bildung und Gesellschaft zog. Und dass die Unterschiede der Geschlechter auf eine Weise polarisiert waren, die es unmöglich machte, dass Frauen sich auf dem Weg der politischen Mitbestimmung in gleicher Weise wie die Männer Bahn verschafften. Es mussten daher andere Maßnahmen hinzukommen: Aktive Frauenförderung, Gleichstellungsprogramme, Gender Mainstreaming nennen wir sie heute. Mit Simone de Beauvoir bekann in Europa die Epoche der Gleichstellungspolitik, deren »Kind« ja in gewisser Weise auch diese Veranstaltung hier ist.

Nach ihren eigenen Bekundungen war es übrigens gar nicht Simone de Beauvoir selbst, die die Idee zu diesem Projekt hatte, sondern ihr Lebensgefährte Jean-Paul Sartre. Sie erinnert sich, Zitat: »Ich hatte nie an Minderwertigkeitskomplexen gelitten, niemand hatte zu mir gesagt: Sie denken so, weil Sie eine Frau sind. Dass ich eine Frau bin, hatte mich in keiner Weise behindert… »Für mich«, sagte ich zu Sartre, »hat das sozusagen keine Rolle gespielt« – »Trotzdem sind Sie nicht so erzogen worden wie ein Junge: Das muss man genauer untersuchen«, antwortete Sartre. Ich untersuchte es genauer und machte eine Entdeckung: Diese Welt ist eine Männerwelt.«

Diesen Abschnitt finde ich ein bisschen merkwürdig. Denn dass Mädchen bei der Erziehung, in der Bildung und im öffentlichen Leben anders behandelt wurden als Jungen, kann Beauvoir ja vorher nicht wirklich entgangen sein. Mit ihrer »Entdeckung«, dass die Welt eine Männerwelt ist, muss Beauvoir etwas anderes gemeint haben, als die ganz offensichtliche Tatsache der Frauendiskriminierung. Der eigentliche Kern ihrer »Entdeckung« bestand darin, dass diese Tatsache einen anderen Grund hat als den, der landläufig dafür angegeben wurde. Denn nicht die Natur oder ein weibliches Wesen oder eine gottgegebene Veranlagung der Frau ist ihrer Analyse zufolge die Ursache für die unterschiedlichen Geschlechterrollen, sondern Beauvoir zeigt, dass die Vorstellungen, die wir uns von »Frausein« und »Mannsein« machen, immer kulturell geprägt sind. Das Frausein, entdeckte Beauvoir, hat keinen irgendwie gearteten »Kern«, keine »Natur«, an der man sich orientieren kann oder muss, sondern es ist durch und durch sozial konstruiert: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.« – so lautet ja auch der berühmte Schlüsselsatz aus dem »anderen Geschlecht«.

Gleichzeitig entdeckte Beauvoir, dass in einer patriarchalen Kultur das Allgemeine, das Universale, die Norm mit dem Männlichen gleichgesetzt wird, während das Weibliche demgegenüber ein »Zweites«, Nachrangiges, ist. Sie durchschaute also, dass das Weltbild der »getrennten Sphären« etwas für die westliche – und vor allem für die französische – Kultur so Grundlegendes und Wesentliches ist, dass es für die einzelne Frau unmöglich ist, daraus auszubrechen. Weil es bei den Geschlechterrollen nicht um eine einfache Trennung der Aufgabenbereiche geht, um eine pragmatische Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen, sondern weil das eine Geschlecht als Zentrum und das andere als auf dieses Zentrum bezogen gedacht wird. Daher nannte sie ihr Buch: »Das zweite Geschlecht« (im französischen Original), was – anders als der deutsche Titel – den Schwerpunkt auf die Rangordnung von Männlichem und Weiblichem legt. Sie entlarvt also die damals weit verbreitete Behauptung, die Geschlechter seien zwar unterschiedlich, aber doch gleichwertig, als Lüge und männliche Propaganda.

Wenn also, und das ist Beauvoirs Entdeckung, diese Hierarchisierung der Geschlechter in ein »Normales, allgemeines, erstes« Geschlecht und ein »untergeordnetes, zweites Geschlecht« nicht nur einfach gesellschaftliche Konvention ist, eine Art Zufall oder Mode, sondern wenn diese Hierarchie die Grundlage der Kultur schlechthin darstellt, dann bedeutet das, dass sich auch eine Frau, die diese Konventionen nicht teilt, dem Dilemma des Frauseins letzten Endes nicht entziehen kann. Denn ich als individuelle Frau kann mich zwar der Mode verweigern, ich kann mich den Zuschreibungen an Weiblichkeit entziehen und meinen eigenen Weg suchen. Aber ich kann nicht aus der Kultur und aus der Gesellschaft insgesamt aussteigen. Mein Frausein wird mich also immer, egal wie ich persönlich lebe, auf den zweiten Rang verweisen.

Mit dieser Analyse unterscheidet sich Simone de Beauvoir von vielen anderen Philosophinnen ihrer Zeit. Hannah Arendt oder Simone Weil zum Beispiel, die eine ein Jahr früher, die andere ein Jahr später als Beauvoir geboren, haben sich für diesen Aspekt nie sonderlich interessiert. Sie hielten die untergeordnete Position des Weiblichen für einen zwar unschönen, aber letztlich nicht so wichtigen Aspekt der Gesellschaft. Sich selbst sahen sie einfach als Menschen, sie orientierten sich schlicht und ergreifend nicht an den Konventionen von Weiblichkeit, und sie machten damit gute Erfahrungen. Auch Simone de Beauvoir hatte lange Zeit diese Einschätzung geteilt. »Ich hielt mich nicht für eine Frau, ich war ich .«[^1]beschreibt sie diese Haltung.

Es ist eigentlich erstaunlich, dass gerade Beauvoir eine solche radikale Theorie entwickelte – radikal für damalige Verhältnisse, uns erscheint das heute selbstverständlich, was auch zeigt, wie viel Wirkung Beauvoirs Feminismus entfaltet hat. Sie war nämlich keineswegs von klein auf eine Rebellin. Simone de Beauvoir wurde am 1908 in Paris in eine großbürgerliche Familie hineingeboren. Die Mutter war eine fromme Katholikin, der Vater ein aufgeklärter Demokrat.

Und Simone de Beauvoir war ein braves Mädchen. Der französische Originaltitel des ersten Bandes ihrer Autobiografie, in dem sie ihre Kindheit und Jugend schildert, heißt: »Memoirs d’une jeune fille rangée«, was in etwa übersetzt werden könnte mit: »Memoiren eines ordentlichen jungen Mädchens«. Dass sie sich selbst als »ordentlich«, also als »rangée«, das Gegenteil von »dérangée«, bezeichnete, meinte sie im Rückblick sicher auch ein bisschen ironisch. Aber es traf im Wesentlichen zu: Während ihre jüngere Schwester Helène oft aufmüpfig war und ihre Freundin Zaza sogar in aller Öffentlichkeit mit ihrer Mutter zu diskutieren anfing, widersprach Simone als Jugendliche selten und widersetzte sich den Wünschen ihrer Eltern nie. Sie distanzierte sich eher innerlich, und zwar vor allem von der Mutter, einer eifrigen Kirchgängerin, die immer auf Einhaltung der Sitten bedacht war. Den Vater hingegen, ein eher intellektueller Freigeist, bewunderte sie. Beauvoir schreibt: »Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es noch einen ebenso klugen Mann geben könne wie ihn. Sein Denken war unangreifbar und unumschränkt. Menschen und Dinge erschienen vor seinem Richterstuhl: er fällt souverän sein Urteil über sie.« Diese Bewunderung des Vaters übertrug Beauvoir später auf die männliche Kultur schlechthin, wenn sie schreibt: »Kinder zu haben, die ihrerseits wieder Kinder bekämen, hieß nur das ewige alte Lied wiederholen; der Gelehrte, der Künstler, der Schriftsteller, der Denker schufen eine andere, leuchtende, frohe Welt, in der alles seine Daseinsberechtigung erhielt. In ihr wollte ich meine Tage verbringen; ich war fest entschlossen, mir darin einen Platz zu verschaffen.«

Ein Weg, den sie gezielt beschreitet. Da ihre Eltern im 1. Weltkrieg einen Großteil ihres Vermögens verlieren, ist Simone keine »gute Partie« mehr und wird zur Universität geschickt, damit sie sich später ihren Lebensunterhalt selbst verdienen kann. Im Studium lernt sie Jean Paul Sartre kennen, einen Mitstudenten und denkerisch Gleichgesinnten. Sie beschließt, mit ihm zusammenzuleben, ohne ihn zu heiraten. Sie will Freiheit in ihren Beziehungen, sie will Unabhängigkeit in ihrem Leben. Sie wird Lehrerin, schreibt ihre ersten Romane, die sie erfolgreich publiziert, sodass sie nach ihrem Rauswurf aus dem Schuldienst – sie hatte die Liebesbeziehung einer Schülerin mit einem Juden verteidigt – vom Schreiben leben kann. Ein Lebensmodell, das überaus erfolgreich ist: Bis ins hohe Alter lebt Beauvoir selbstbestimmt, gesellschaftlich anerkannt und einflussreich.

Dieses unkonventionelle Leben hat Generationen von Frauen inspiriert, vermutlich mehr als ihre Bücher. Es wirft aber auch die Frage auf, ob Simone de Beauvoir nicht selbst der beste Gegenbeweis für ihre Thesen ist. Zeigt ihr Weg nicht, dass eine einzelne Frau sich durchaus aus den gesellschaftlichen Zuschreibungen von Weiblichkeit befreien kann?

Hier zeigt sich ein Missverständnis, das Beauvoirs Feminismus häufig ausgelöst hat. »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es« – dieser Schlüsselsatz wurde ja häufig anders übersetzt, und zwar falsch: »Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht «. So als würden die äußeren Umstände Frauen mehr oder weniger in bestimmte Verhaltensmuster hineinzwingen. Eine Frau zu werden, das ist aber für Beauvoir kein passiver, sondern ein aktiver Prozess. Ihren Feminismus kann man nicht verstehen, ohne zu bedenken, dass sie nicht in erster Linie Feministin, sondern Philosophin war, und zwar Mitbegründerin einer ganz bestimmten philosophischen Richtung, des Existenzialismus.

Existenzialismus bedeutet, dass das Wesen des Menschseins sich auf nichts gründen kann, das außerhalb seiner faktischen Existenz steht. Also: Weder Gott, noch die Vernunft, noch die Biologie oder die Natur geben vor, was ein Mensch tun und lassen soll. Beauvoir hat schon sehr früh in diese Richtung gedacht. Regelrecht wie ein »Bekehrungserlebnis« schildert sie, dass sie im Alter von 14 Jahren plötzlich »entdeckte«, dass es keinen Gott gibt. Später baute sie das zusammen mit Sartre zu einer radikalen Philosophie aus: Das wichtigste Zentrum ihrer Ethik ist der einzelne Mensch, der Urteile darüber fällt, wie die Welt sein soll, und der sie dann entsprechend gestaltet – man sieht hier förmlich den alten Herrn Beauvoir auf seinem Richterstuhl thronen. Es gibt also keine andere Moral, als die, die die Menschen sich selbst geben. Das bedeutet, dass sich niemand auf die äußeren Verhältnisse stützen, aber auch nicht auf sie herausreden kann. Berühmt geworden ist dieses sehr radikale Verständnis von Freiheit durch Sartres provozierendes Beispiel, der sagte: Auch ein zum Tode Verurteilter in einer Gefängniszelle ist frei. Auf den Feminismus übersetzt bedeutet das: Auch eine Frau, die durch patriarchale Gesellschaft unterdrückt und gegängelt wird, ist nach der Lehre des Existenzialismus – frei.

Der Existenzialismus ist also eine Philosophie, die den Einzelnen eine sehr große Verantwortung aufbürdet. Leben ist harte Arbeit – so könnte man das zusammen fassen – denn wie ich lebe, was ich tue, das entscheidet darüber, was existiert, was real ist. Das höchste Gebot ist es für Simone de Beauvoir, ein aktives, reflektiertes Leben zu führen. Akribisch legt sie in ihren Romanen, in ihrer Autobiografie, in ihren Essays dar, wie anstrengend es ist, ein solches Leben zu führen. Nichts darf ich ungeprüft glauben, zu allem muss ich mir eine eigene, unbestechliche Meinung bilden. Und: Nichts ist privat, egal, was ich tue, alles hat eine existenzielle Bedeutung. Daher ihre große Disziplin beim Arbeiten, daher ihre schonungslosen Analysen selbst intimster Dinge. Bis zur Schmerzgrenze des Erträglichen macht sie Liebesbeziehungen, politische Auseinandersetzungen, moralische Dilemmata öffentlich. Und nichts hasst sie so sehr, wie »Zeitverschwendung«, wenn sie zum Beispiel auf Empfänge muss und mit langweiligen Leuten zu tun hat, wo doch draußen eine ganze interessante Welt auf ihr Urteil und ihr Handeln wartet.

In »Das andere Geschlecht« untersucht Beauvoir die kulturellen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit nun im Hinblick auf dieses existenzialistische Menschenbild. Und sie stellt fest, dass Jungen und Mädchen nicht einfach nur unterschiedlich erzogen werden, was für sich genommen kein Problem wäre, weil ja niemand im leeren Raum lebt. Sondern dass die Jungen genau zu diesen existenzialistischen Werten erzogen werden – sie werden nämlich ermutigt und angeleitet, sich aus den familiären Beeinflussungen zu lösen, selbstständig zu werden, individuelle Wege zu gehen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Während die Mädchen dagegen eingeredet bekommen, dass eine solche Selbstbestimmung »unweiblich« sei und sie sich, um »gute Frauen« werden zu können, einem bestimmten, vorgegebenen Bild von »Weiblichkeit« anpassen müssten. Das heißt, Frauen werden durch die Erziehung geradezu davon abgehalten, das zu tun, was nach Beauvoirs Ansicht aber die moralische Pflicht eines jedes Menschen ist, nämlich sich ein eigenständiges Urteil über die Welt zu bilden und volle Verantwortung für die eigene Existenz zu übernehmen.

Und weil Frauen, die sich diesem Bild von Weiblichkeit fügen, also sozusagen den Sinn des menschlichen Lebens verfehlen, weil sie nicht in der Öffentlichkeit für ihre eigenen Entscheidungen gerade stehen, weil sie keine eigenen Projekte haben, in denen sie sich wiederfinden und sich eine weltliche Existenz schaffen, sondern stattdessen auf den privaten Bereich, die Kinder, die Familie, den Ehemann beschränkt bleiben, werden sie oft unglücklich und depressiv, von fehlenden materiellen Ressourcen ganz abgesehen. Wobei Beauvoir aber sieht, dass so ein Frauenleben auch Vorteile haben kann, vor allem, wenn frau etwas träge ist, denn so ein Leben ist weniger anstrengend, Frauen können anderen die Verantwortung für ihr Schicksal geben, sie können sich einreden, dass sie ja nicht selber Schuld an ihrem Dilemma sind – oder sogar, dass ihr privates Leben doch auch ganz schön ist, und was interessiert sie die böse Welt (der Männer) da draußen!

Dass diese Aufteilung der Geschlechterrollen so gekommen ist, ist nach Ansicht von Simone de Beauvoir nicht die Folge eines feindlichen Aktes der Männer, also zum Beispiel davon, dass kriegerische Kulturen matriarchale Kulturen ausgelöscht hätten oder davon, dass Männer ihre körperliche Stärke ausnutzten. Sondern sie hält diese Entwicklung für eine zwangsläufige Folge davon, dass Frauen Kindern gebären und Männer nicht. Die Mutterschaft bedeutete für Frauen ein Handicap, weil sie weniger flexiblel, weniger mobil waren als Männer, denn sie mussten ja auf Kinder Rücksicht nehmen. Das hätten die Männer dann lediglich zu ihren Gunsten ausgenutzt, indem sie die Frauen zunehmend auf diese Tätigkeit festlegten.

Das ist auch der Grund, warum sie die Frauen auffordert, sich aus allen weiblichen Rollen zu lösen und sich stattdessen ohne Wenn und Aber einen Zugang zur Welt der Männer zu verschaffen, sich in diese zu integrieren, sie sagt sogar, assimilieren. Ein Zitat: »Ich glaube nicht, dass etwas Besonderes von der Weiblichkeit zu erwarten ist. Trotz allem ist es doch eine Assimilierung, die wir anstreben, und nicht die Entwicklung spezifisch weiblicher Qualitäten. … Es ist eine Tatsache, dass die universale Kultur, die Zivilisation und die Werte alle von Männern geschaffen wurden … Die Frauen sollten in Gleichheit mit den Männern sich die von Männern geschaffenen Werte aneignen, statt sie abzulehnen.«

Diese sehr positive Einschätzung der männlichen Kultur werden wohl heute nicht mehr viele teilen. Heute wissen wir, dank der historischen Frauenforschung, auch mehr als zu Beauvoirs Zeiten, dass die Kultur und die Zivilisation zu einem großen Maße durchaus von Frauen geschaffen worden sind, und zwar gerade auch, insofern Frauen nicht dasselbe gemacht haben und denselben Werten gefolgt sind, wie Männer. Doch dies sollte uns nicht verführen, Beauvoir zu den Akten zu legen. Denn die von ihr beschriebene Gefahr, dass Weiblichkeit idealisiert wird und der weibliche Beitrag zur Zivilisation und zur Kultur in den privaten, nicht-öffentlichen Bereich verbannt wird, die besteht auch heute noch, ebenso wie der Biologismus immer noch im Schwunge ist und durch die Gen- und Hirnforschungen derzeit sogar wieder Auftrieb hat. Trotzdem bleibt auch Beauvoirs Lösung unbefriedigend.

Es ist häufig darüber diskutiert worden, ob Simone de Beauvoir Mutterschaft und Hausarbeit generell ablehnt, oder ob sie nur die Form ablehnt, wie sie in patriarchalen Gesellschaften organisiert wird. In der Tat ist der Befund hier nicht ganz eindeutig. Klar ist, dass Haus- und Fürsorgearbeit für Beauvoir nachrangige, wenig wichtige Tätigkeiten sind. Ein Zitat: »Auf alle Fälle sind Gebären und Stillen keine Aktivitäten, sondern natürliche Funktionen, kein Entwurf ist dabei im Spiel und daher kann auch die Frau darin keinen Grund einer hochgestimmten Bejahung ihrer Existenz finden. Die häuslichen Tätigkeiten, denen sie sich widmet, da nur diese mit den Lasten der Mutterschaft sich vereinigen lassen, beschränken sie auf Wiederholung… Tag für Tag kehren sie in gleicher Form wieder, die fast unverändert die Jahrhunderte überdauert; es geht nichts Neues aus ihnen hervor.« – hier sieht man förmlich Mutter Beauvoir vor sich, wie sie Tag für Tag über ein langweiliges Nähkästchen gebeugt ihr Leben nutzlos verstreichen lässt.

Meiner Meinung nach ist der Knackpunkt bei diesem Thema nicht so sehr die Frage, wie Simone de Beauvoir die Mutterschaft bewertet, sondern die, welches Verständnis von Freiheit sie hat. Denn in gewisser Weise ist diese negative Beurteilung der mütterlichen Tätigkeiten eine logische Folge, wenn man, wie die Existenzialisten, unter Freiheit versteht, dass jemand ohne sich von äußeren Umständen beeinflussen zu lassen, seine eigenen Projekte in der Welt durchsetzt und verwirklicht. Wer sich um Kinder oder andere Abhängige kümmert, ist nämlich tatsächlich nicht so autonom und unabhängig, sondern steht in einer Art »Co-Abhängigkeit«, wie es die amerikanische Philosophin Martha Fineman es formuliert hat. Sie fordert deshalb, genau wie viele andere Feministinnen heute, dass wir einen neuen Freiheitsbegriff brauchen, der mit der Tatsache der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen vereinbar ist. Viele Frauen haben zum Beispiel in den letzten Jahrzehnten zum Thema Fürsorgeethik geforscht und gearbeitet und nach Möglichkeiten gesucht, Freiheit und Bezogenheit miteinander zu vereinbaren.

Aber heute ist ohnehin diese starke Betonung des einzigartigen Subjektes, das Kraft seines moralischen Urteils die Welt erschafft, ziemlich »aus der Mode« gekommen. Abgelöst wurde diese existenzialistische Sichtweise inzwischen vom so genannten Dekonstruktivismus, also jener Philosophie, die den Schwerpunkt darauf legt, dass es eine Unabhängigkeit des Subjektes überhaupt nicht geben kann, weil auch das Subjekt immer eingebettet ist in einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, aus dem wir niemals ausbrechen können, auch nicht innerlich. Oder anders gesagt: Wir sind niemals frei, weder im Gefängnis, noch am Rednerpult oder auf dem Präsidentenstuhl oder an irgend einem anderen Ort.

In gewisser Weise schwankt die männliche Philosophie schon seit Jahrhunderten zwischen diesen beiden Extremen hin und her, also zwischen der Behauptung, es gebe ein unabhängiges Subjekt, auf der einen Seite, und der Einsicht, dass man sich kaum aus den Beeinflussungen lösen kann, auf der anderen.

Ich bin der Meinung, dass der Feminismus zu diesem philosophischen Dauerbrenner einen wichtigen Diskussionsbeitrag leisten kann, und zwar deshalb weil Frauen, die über den Sinn ihres Frauseins nachdenken, zwangsläufig Expertinnen für dieses Dilemma sind, Beauvoir bringt es gut auf den Punkt, wenn sie sagt: »Ich hielt mich nicht für eine Frau, ich war ich .« Denn das ist ja einZwiespalt, in dem wir Frauen uns immer befinden: Wir sind gleichzeitig Frauen und Individuen, also Personen, für die ihr Geschlecht nur eines von vielen Merkmalen und womöglich nicht einmal das wichtigste ist. Deshalb konnten einzelne Frauen ja auch schon immer einen anderen Weg wählen, sie konnten etwa Wissenschaftlerinnen, Weltreisende, Philosophinnen sein, »obwohl sie Frauen waren«, wie man früher sagte. Simone de Beauvoir hat aber gezeigt, dass solche individuellen Ausnahmefrauen keineswegs etwas an der grundsätzlichen Zweitrangigkeit des Weiblichen ändern können.

Wahrscheinlich ist das der Grund, dass Simone de Beauvoir heute immer noch eine gewisse Aktualität hat, während vom Existenzialismus kaum noch die Rede ist. Simone de Beauvoir hat ja hauptsächlich Romane geschrieben, und zwar vor allem Romane, in denen sie ihr eigenes Leben, ihre persönlichen Erlebnisse schildert und reflektiert. Ihre größte Stärke war diese Offenheit und die Genauigkeit ihrer Schilderungen, die ein beredtes Zeugnis abgeben von ihrer Auseinandersetzung mit der Realität.

In dieser Hinsicht war sie jedenfalls für mich oft ein großes Vorbild. Ich weiß gar nicht, ob das stimmt, aber ich habe irgendwo mal gelesen, dass Beauvoir sich mit anderen immer nur zu zweit im Café trafen, weil das Gespräch in einer größeren Gruppe häufig in belanglosen Smalltalk abdriftet, während man wirklich ernsthafte Gespräche nur zu zweit führen kann. Diese Wichtigkeit des Gesprächs, das mitten im Leben stattfindet, das Durchdenken und Durchdiskutieren des persönlich Erlebten als eine politische Praxis ist etwas, worin Beauvoir ein großes Vorbild ist.

Beauvoir hat ja hauptsächlich Romane geschrieben, und zwar vor allem Romane, in denen es um Beziehungen geht, in denen sie ihr eigenes Leben, ihre persönlichen Erlebnisse, ihre politischen Freundschaften und intime Liebesaffären reflektiert. Ihre größte Stärke war diese Offenheit und die Genauigkeit ihrer Schilderungen, die ein beredtes Zeugnis abgeben von ihrer vorurteilslosen Auseinandersetzung mit der Realität.

Das Entscheidende sind in ihren Büchern nämlich gar nicht einsame Gestalten, die als autonome Subjekte auf dem Richterstuhl thronen, sondern ganz normale Menschen aus Fleisch und Blut, die mit vielfältigen Beziehungen anderen verbunden sind und die meistens gemeinsam – oder auch gegeneinander – um ein moralisches Urteil ringen. Beziehungen sind das tragende Motiv sowohl in Beauvoirs Leben als auch in ihren Büchern. Und die wichtigste von allen war die Beziehung zu Jean Paul Sartre. Sie ermöglichte es ihr, sich als 20-Jährige dann doch den Erwartungen ihrer Familie zu entziehen und einen unkonventionellen Lebensweg einzuschlagen. Und bekanntlich hielt diese Freundschaft und Liebesbeziehung ein Leben lang – und stand gewissermaßen »Pate« für viele späteren Experimente im Hinblick auf neue Beziehungsformen und Lebensmodelle.

Aber an ihrem Schicksal können wir auch viel über die Gefahr lernen, in die auch heute noch jede Frau gerät, die ihr Frausein thematisiert – und darüber, wie eine dann plötzlich in der Öffentlichkeit nur noch als Repräsentantin ihres Geschlechtes wahrgenommen wird. Mit gutem Grund hat nämlich Beauvoir »lange gezögert, ein Buch über die Frau zu schreiben«. Denn in der Tat markiert »Das andere Geschlecht« einen Wendepunkt.

Einerseits machte es Beauvoir auf einen Schlag berühmt, auch außerhalb der philosophisch interessierten Kreise, in denen sie sich bis dahin bewegt hatte. Viele Frauen lasen das Buch, es hatte schon damals eine enorme Auflage, gleich in der ersten Woche wurden über 20.000 Exemplare verkauft. Doch andererseits avancierte Beauvoir nun zu einer Art »Expertin für Frauenthemen«, und verlor damit den Status einer allgemein anerkannten Philosophin und Autorin. Bis zum »anderen Geschlecht« hatte man Beauvoir vor allem als Mitbegründerin des Existenzialismus gekannt, der damals ja so eine Art Mode-Philosophie war. 1944 hatte Beauvoir in ihrem Essay »Pyrrhus und Cineas« die Grundlinien des Existenzialismus dargelegt – ein höchst interessanter Text, den ich Ihnen sehr empfehle. Sie war also eine gefragte philosophische Rednerin im In- und Ausland.

Aber das änderte sich, als »Das andere Geschlecht« herauskam. Vorher, schreibt sie in ihrem Memoiren, habe sie niemals unter ihrem Frausein gelitten. Zitat: »Nach dem Erscheinen von L’Invitée – das war ihr erster Roman – behandelte mich meine Umgebung gleichzeitig als einen Schriftsteller und als eine Frau.« Erst nachdem »Das andere Geschlecht« heraus war, so erinnert sie sich, »geschah es oft, dass ich als Frau angegriffen wurde, weil man glaubte, mich an einer verwundbaren Stelle zu treffen.«

Ein Problem war dabei, dass sich die übrigen Existenzialisten, inklusive Sartre, das Anliegen des Feminismus nicht zu Eigen machten. Das heißt, die Analyse der Geschlechterverhältnisse blieb Beauvoirs persönliches Projekt, es wurde nicht in die existenzialistische Gesamtbewegung integriert. Es ist in gewisser Weise geradezu tragisch: Genau deshalb, weil Beauvoir die Zweitrangigkeit des Weiblichen thematisiert hatte, rückt sie selbst als Philosophin in den Schatten Sartres. Der Blick auf ihr Frausein veränderte sich, man interessierte sich fast mehr für ihr Privatleben als für ihr Denken. Nun plötzlich spielte die Tatsache, dass sie eine Frau war, eine Rolle – und das bis heute. So schreibt die »Zeit« im vergangenen Dezember im Vorspann zu einem Artikel über Beauvoir: »Sie war nicht nur die Lebensgefährtin Jean Paul Sartres, sondern auch eine der bedeutendsten Frauenrechtlerinnen«– dass Beauvoir Philosophin und Schriftstellerin war, scheint gar nicht von Interesse zu sein.

Aber auch die Frauenbewegung, die Beauvoir in den 70er Jahren zu ihrer Galionsfigur machte, hat allzu häufig in Beauvoir nicht die originelle Denkerin, sondern die Repräsentantin ihres Geschlechts gesehen. Hat aus ihren Werken nur das herausgepickt, was ihr in den Kram passte, und nicht wirklich den Dialog mit dem Existenzialismus gesucht. Eine angemessene Auseinandersetzung mit Beauvoir kann aber meiner Ansicht nach nur darin bestehen, mit ihr in einen echten Austausch zu treten, was immer gleichzeitig bedeutet, von ihr zu lernen und sie kritisch zu befragen. Und dazu möchte ich nun zum Schluss noch einige Überlegungen anstellen.

Einen wichtigen Punkt habe ich ja schon genannt, nämlich ihre Bewunderung für die männliche Kultur und ihr existenzialistischer Freiheitsbegriff, der ein unabhängiges Subjekt ins Zentrum stellt. Andere Punkte ergeben sich schlicht aus der Tatsache, dass seit ihrer Analyse fast 60 Jahre vergangen sind. Wenn man »Das andere Geschlecht« heute wieder liest, ist geradezu frappant, wie vieles sich im Leben von Frauen seither verändert hat. Vor allem in der Erziehung und in der Bildung von Mädchen ist heute nichts mehr so, wie Beauvoir es beschreibt. Mädchen werden heute ja nicht mehr zu schüchternen Hausmütterchen erzogen, im Gegenteil: Sie durchlaufen die Bildungsinstitutionen deutlich erfolgreicher als Jungen, sie werden von ihren Müttern und Lehrerinnen zum eigenständigen Denken ermutigt – und ich nehme an, auch unter Ihnen sind viele, die sich in diesem Bereich engagieren.

Allerdings ist trotz dieses Umschwungs in der Mädchenerziehung keineswegs das feministische Paradies auf Erden ausgebrochen. Vielmehr hat sich der Moment, in dem sich die Schere zwischen männlichen und weiblichen Lebensmöglichkeiten auftut, nach hinten verschoben: Nicht mehr in der Schule, sondern beim zweiten und dritten Karriereschritt driftet es auseinander. Sie kennen ja die entsprechenden Studien.

EinGrund dafür ist nach wie die Fürsorgearbeit, die immer noch hauptsächlich von Frauen gemacht wird. Dies ist definitiv erstaunlich, weil sich ansonsten nämlich auch auf diesem Gebiet etwas Wichtiges verändert hat: Während zu Beauvoirs Zeiten ganz selbstverständlich klar war, dass Kindererziehung und -betreuung, Hausarbeit, Pflege von Alten und Kranken und so weiter die Aufgaben von Frauen sind, ist die Rhetorik heute eine gänzlich andere. Alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte, inklusive die Konservativen, lassen keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass es sich dabei um gemeinsame Aufgaben von Frauen und Männern handelt. Das geht so weit, dass wir nur noch in streng geschlechtsneutralen Begriffen über das Thema sprechen: Wir reden nicht mehr von Müttern, sondern von Eltern, nicht mehr von Krankenschwestern, sondern von Pflegekräften, nicht mehr von Putzfrauen, sondern von Reinigungspersonal.

Simone de Beauvoir wäre das wahrscheinlich phantastisch vorgekommen. Ihr selbst ist jedenfalls die Idee, dass diese Fürsorgearbeiten zum Teil von Männern übernommen werden könnten, überhaupt nicht in den Sinn gekommen – angeblich konnte Sartre ja Zeitlebens nicht mal Spiegeleier braten. Andererseits war sie in dieser Hinsicht vielleicht auch nur realistischer als wir. Denn wenn wir uns anschauen, was in der Realität wirklich passiert ist, ist die Veränderung weit weniger dramatisch: Es sind immer noch zu 95 Prozent die Mütter, die die Kinder erziehen, und zu 90 Prozent Frauen, die putzen, Kranke pflegen und so weiter.

Aber was den Feminismus betrifft, so haben wir nicht nur dieses »Vereinbarkeitsproblem«, über das ja inzwischen sehr ausführlich und bis in die obersten Bereiche der Politik hinein diskutiert und nachgedacht wird. Darüber vergessen wir manchmal, dass auch viele Frauen, die keine Kinder haben oder die die Betreuung ihrer Kinder gut organisieren konnten, sich in den öffentlichen Institutionen, in den Konzernen, den Universitäten, den Verwaltungen und so weiter keineswegs so richtig zu Hause fühlen. Es ist nicht nur die Doppelbelastung, die Frauen hier fernhält, sondern auch ein Unbehagen, eine gewisse Unvereinbarkeit, eine irgendwie auf Gegenseitigkeit beruhende Antipathie. Diese Antipathie müssten wir genauer untersuchen, und zwar genau den Aspekt, wo sie den Willen von Frauen betrifft, sich an bestimmten Orten nicht zu engagieren, sich etwa um bestimmte Posten gar nicht erst zu bewerben, nicht jeden Kompromiss mit dem Arbeitsleben einzugehen und so weiter.

Wahrscheinlich sind wir heute an einer weiteren Etappe des Feminismus angelangt. Simone de Beauvoir hat vor 60 Jahren gezeigt, dass Feminismus sich nicht mit dem Wahlrecht erschöpft. Und wir sehen heute, dass Feminismus auch mehr sein muss als die formale Gleichstellung der Frauen mit den Männern, weil diese Gleichstellung zwar bestimmte Benachteilungen von Frauen bekämpfen kann, an der grundsätzlichen Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche aber nichts verändert.

Wir brauchen also nicht noch ein weiteres Fördergesetz oder noch ein paar Euro mehr für erziehungswillige Väter oder noch ein paar Wie-werde-ich-Topmanagerin-Kurse für Frauen. Das alles ist nur Flickwerk, solange wir uns nicht noch einmal der grundsätzlichen Frage zuwenden, die Simone de Beauvoir ihr ganzes Leben beschäftigt hat: Was ist Freiheit? Wie wollen wir leben? Wie gestalten wir unsere Beziehungen? Was ist der Sinn unseres Lebens? Wie wollen wir tätig sein – auch jenseits der Anforderungen des Arbeitsmarktes?

Meine These dazu ist, dass Simone de Beauvoirs Philosophie noch immer höchst aktuell ist, wenn sie die Bedingungen dafür untersucht, wie Menschen sich aktiv als Handelnde mit ihren Wünschen und ihrem Begehren in die politischen Verhandlungen einklinken können. Und sie hatte sicher in ihrer Zeit auch Recht mit der Beobachtung, dass Frauen, die als Hausfrauen und Mütter auf den Bereich des Privaten beschränkt wurden oder sich darauf beschränken ließen, allzu oft nur funktionierten und versuchten, vorgegebene Erwartungen anderer zu erfüllen, statt sich verantwortlich in der Welt zu engagieren.

Heute jedoch frage ich mich, ob sich dieses »einfach nur Funktionieren« nicht längst als Verhaltensregel in der ganzen Gesellschaft ausgebreitet hat und vor allem auch bei der Erwerbsarbeit. Immer mehr verfolgen Menschen – egal ob Frauen oder Männer – auch hier nicht ihre eigenen Projekte, übernehmen keine Verantwortung, sondern haben den Eindruck, ihnen bliebe gar nichts anderes übrig, als widerspruchslos das Soll zu erfüllen. So als seien die »Gesetze der Wirtschaft« genauso wenig zur Diskussion zu stellen, wie früher die »Gesetze der Weiblichkeit«. Und wenn das so ist, dann führt eine größere Integration der Frauen in die Erwerbsarbeit unter diesen Umständen nicht zu mehr Freiheit, sondern möglicherweise ins Gegenteil.

Auf dem Weg zu einer Welt, in der Frauen und Männer mit Wohlbehagen leben, in der das Weibliche nicht mehr als dem Männlichen untergeordnet gilt, in der Frauen also nicht mehr das »zweite« Geschlecht sind, auf diesem Weg war das Wahlrecht eine ganz wichtige Etappe. Und auch die Gleichstellungspolitik, für die das Denken von Beauvoir ein entscheidender Anstoß war, ist eine oft nützliche und vielleicht auch notwendige Etappe auf diesem Weg. Allerdings beinhaltet sie gleichzeitig auch die Gefahr, und die ist heute sehr viel größer als zu Zeiten von Beauvoir, dass das Weibliche unsichtbar gemacht und für irrelevant erklärt wird. Oder dass Frauenpolitik in einer ansonsten weiterhin männlich geprägten Kultur für andere Zwecke instrumentalisiert wird, zum Beispiel einen neoliberalen Umbau der Wirtschaft.

Es liegt an uns, dass dies nicht passiert, dass wir weiterhin für die weibliche Freiheit kämpfen, für die Freiheit der Frauen, die Welt nach ihren Wünschen zu gestalten, ohne dabei an irgendwelchen äußeren Maßstäben von Weiblichkeit gemessen zu werden, wie das Simone de Beauvoir so scharfsinnig und nach wie vor gültig kritisiert hat. Aber eben auch, und das würde ich an dieser Stelle gerne anfügen, ohne sich dabei an die vorgegebenen Maßstäbe und Werte einer männlichen Kultur anpassen zu müssen. Auf jeden Fall sollten wir uns dabei Beauvoirs Appell zu Herzen nehmen, dass wir Verantwortung für diese Welt tragen, dass wir uns nicht ins Private zurückziehen, dass wir uns nicht hinter anderen verstecken, den Männern, der Gesellschaft, wem auch immer.

Möglicherweise könnten wir uns dabei eine abgewandelte Variante von Beauvoirs berühmten Satz zum Leitbild nehmen. Sie wurde kürzlich von einer Teilnehmerin bei einer Frauentagung vorgeschlagen und gefällt mir sehr gut: »Man wird zwar als Frau geboren, es kommt aber darauf an, was eine daraus macht.«

Vortrag am 28.1.2008 in der VHS Aalen,

am 12.2.2008 im Frauensalon Detmold,

am 28.4.2008 in der VHS Schwäbisch-Gmünd,

am 19.6.2008 in der Stadtbücherei Leonberg,

am 10.9.2008 im »Lila Salon« Schwerte,

am 11.9.2008 im »Lila Salon« Iserlohn.