Antje Schrupp im Netz

Weibliches Begehren und die Stärke der Frauen

»Frauen stärken Frauen« – das ist das Thema dieses Tages. Aber bevor wir uns fragen, wie Frauen Frauen stärken können, müssen wir erst einmal die Frage beantworten: Was ist überhaupt eine starke Frau? Eine starke Frau ist in unserer Tradition und Kultur ja eigentlich so etwas wie ein schwarzer Schimmel. Also ein Widerspruch in sich. Stärke wurde lange mit dem Männlichen gleich gesetzt, Schwäche mit dem Weiblichen – und andersrum heißt das aber auch: Stark ist, wie ein Mann sein. Erst kürzlich sah ich zufällig wieder mal einen dieser Science Fiction Filme aus den 80er Jahren, mit Frauen, die Raumschiffe kommandieren, strenge Uniformen tragen und in knappem, souveränen Tonfall Befehle erteilen.

»Frauen stärken Frauen« – tatsächlich haben einige Menschen, mit denen ich im Vorfeld über dieses Thema sprach, es auch spontan genau so verstanden: Dass es darum gehe, wie Frauen sich gegenseitig unterstützen können, um stark zu werden, wie ein Mann, gesellschaftliche Bereiche für sich zu erobern , wie man so schön sagt. Und weil sie es so verstanden, fragten dann auch viele, ob das überhaupt noch nötig sei. Vor zwei Wochen zum Beispiel kam ein Radioreporter, um mich wegen meines Vortrages hier zu interviewen. Und er fragte: Wozu braucht man heute überhaupt noch solche Frauentage? Er hätte seine Freundin und seine Sekretärin gefragt, und die hätten gemeint, Frauen stärken, das wäre doch gar nicht mehr nötig, Frauen seien doch längst stark.

Irgendwie haben sie ja auch recht. Anders als die Frauen früherer Generationen haben wir, zumindest die Frauen meines Alters und ich bin ja nun auch schon fast vierzig, alle Möglichkeiten, um stark zu sein, wie die Männer. Wir werden nicht mehr offen diskriminiert, sondern können den Männern nacheifern, in der Schule, bei der Arbeit. Möglicherweise fühlen wir uns darin noch nicht so ganz fit, aber dann können wir ja Kurse belegen und Bücher lesen, die uns dabei noch Tipps geben, oder uns coachen lassen. Und die Belohnung ist: Erfolgreich zu sein wie ein Mann, Geld zu verdienen wie ein Mann, gesellschaftliche Anerkennung finden wie ein Mann.

Natürlich kann man sich darüber streiten, ob das wirklich stimmt oder ob es da nicht immer noch Probleme und Defizite gibt. Ich möchte Sie aber stattdessen einladen, mit mir über eine andere Frage nachzudenken: Was ist eigentlich eine starkeFrau? Was wäre einweiblichesKonzept von Stärke, eines, das sich nicht an der Gleichung stark = Mann orientiert? Eines, bei dem wir aber auch nicht der Versuchung erliegen, weibliche Stärke nun in Abgrenzung von männlicher Stärke zu definieren – etwa nach dem Motto: männliche Stärke ist Muskelkraft, weibliche Stärke ist Einfühlungsvermögen oder so. Ich glaube nämlich nicht, dass Frauen von Natur aus anders sind als Männer. Ich glaube aber auch nicht, dass die von Männern für Männer gemachte Kultur unserer Tradition einfach so auf Frauen übertragbar ist. Was weibliche Stärke ist, das können wir weder in der Angleichung noch in der Abgrenzung von männlicher Stärke herausfinden.

Als ich diesen Vortrag vorbereitete, fragte ich zwei Freundinnen, mit denen ich essen gegangen war, was denn für sie eine starke Frau ist. Die eine sagte ganz spontan: »Eine starke Frau ist eine, die ihren Weg geht, unbeirrt von gesellschaftlichen Konventionen oder davon, was die Leute sagen, die einfach tut, was sie für richtig hält.« Die andere nickte, fügte aber gleich hinzu: »Aber sie muss schon auch offen sein für Kritik und auf andere hören«.

Ja, so sind sie die Frauen: widersprüchlich und unlogisch. Einerseits sich nicht von anderen beeinflussen lassen, aber dann doch auf andere hören? Wie soll das denn gehen? Ich glaube, in solchen Widersprüchen steckt viel Weisheit. Aber sie zeigen auch, wie schwer es ist, die Erfahrung von Frauen in eine Theorie zu pressen, also zum Beispiel abstrakt zu definieren, was eine starke Frau ist. Deshalb bin ich lieber konkret vorgegangen. Ich stellte mir einzelne Frauen vor, meine Mutter, Kolleginnen, Freundinnen, und versuchte, zu entscheiden: Ja, das ist eine starke Frau oder: Nein, das ist keine starke Frau. Und das ging eigentlich ganz gut.

Ich möchte Ihnen drei Frauen vorstellen, die meiner Meinung nach besonders stark waren. Eine ist Teresa von Avila. Sie war eine Nonne und lebte im 17. Jahrhundert in Spanien. Ihr Orden, der Karmeliterorden, war damals sehr weltzugewandt. Hier wurde große Politik getrieben, es gab häufig Gesellschaften und Feste. Für Teresa war das nicht spirituell genug. Sie hatte die Vision einer anderen Frömmigkeit, einer, die durch mystische Versenkung einen unmittelbaren Kontakt zu Gott ermöglicht. Sie entwarf deshalb neue Ordensregeln und gründete mehrere Klöster für Nonnen, die nach diesen neuen Regeln leben wollten. Das war gar nicht so einfach – die Inquisition ermittelte gegen Teresa, außerdem war es schwierig, Häuser, Grundstücke zu finden und den Klosterbetrieb zu finanzieren. Aber mit großer Zähigkeit und Beharrlichkeit, manchmal auch ein wenig jenseits der Legalität und mit Hilfe einiger Geldgeberinnen gelang es Teresa von Avila, diesen Traum zu verwirklichen. Zuerst gab es ihre neuen Klöster nur für Frauen, später gründeten aber auch Männer religiöse Gemeinschaften, in denen sie nach ihren Regeln lebten.

Eine andere starke Frau war für mich Dorothea Erxleben, die erste deutsche Ärztin. Sie lebte in Quedlinburg in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Ihr Vater war Arzt, und von ihm lernte sie alles, was eine Ärztin wissen muss. Als Dorotheas Vater starb, beschloss sie, seine Arbeit weiterzuführen. Aber die anderen Ärzte in Quedlinburg machten ihr Ärger, denn sie war für sie eine Konkurrenz. Sie klagten Dorothea an, sie sei ja gar keine richtige Ärztin, weil sie kein Universitätsexamen hatte. Also beschloss sie, eben auch einen akademischen Doktorgrad zu machen. Im 18. Jahrhundert waren Frauen zu den deutschen Universitäten aber noch gar nicht zugelassen. Sie schrieb Briefe an den König, und nach einigem Hin und Her klappte es tatsächlich: Dorothea Erxleben mache ihr Examen und wurde ganz offiziell Ärztin.

Und noch ein drittes Beispiel, wieder hundert Jahre später. 1872, vor 130 Jahren, kandidierte Victoria Woodhull, eine Frau aus der Unterschicht, für das Amt des amerikanischen Präsidenten. Sie hatte sich viele Jahre lang ihren Lebensunterhalt als Hellseherin und Wunderheilerin verdient und dabei viele Probleme und Lebensgeschichten einfacher Frauen und Männer mitbekommen. Um deren schwierige Situation zu ändern, beschloss sie, selbst politisch aktiv zu werden. Als erste Frau sprach sie vor dem Rechtsausschuss des amerikanischen Kongresses, sie hielt Vorträge und füllte damit Hallen mit mehreren tausend Menschen. Und stellte sich als erste Frau als Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen auf.

Drei Beispiele sind das für starke Frauen aus drei verschiedenen Jahrhunderten, ganz verschiedene Persönlichkeiten und Lebensläufe, aber sie haben etwas gemeinsam: Sie taten Dinge, die eigentlich als unmöglich galten. Sie waren mutig, beharrlich, leidenschaftlich, bereit, Risiken einzugehen, um ihre Ziele zu verwirklichen. Sie sind aus den vorgeschriebenen Bahnen ausgebrochen und haben etwas Großes geleistet. Dadurch haben sie sich von anderen Frauen ihrer Zeit unterschieden – denn das ist so: Es können nicht alle Frauen gleich stark sein. Starke Frauen unterscheiden sich von weniger starken Frauen, sie überragen sie, weil sie mehr wagen, mehr tun, mehr Bereitschaft haben, ein Risiko einzugehen.

Schwache Frauen scheuen sich, die Fähigkeiten, die sie haben, zu nutzen. Sie zögern, eine glückliche Gelegenheit auch zu ergreifen, wenn sie sich bietet. Sie sind oft pessimistisch und bleiben lieber an ihrem gewohnten Ort, wollen kein Risiko eingehen. Starke Frauen dagegen haben etwas in ihrer Persönlichkeit, das sie dazu bringt, die Dinge anzupacken und ihren Weg zu gehen.

Aber wie gelingt ihnen das? Was ist es, das sie so stark macht? Mir fiel auf, dass starke Frauen etwas gemeinsam haben: und zwar ein ungewöhnlich starkes Begehren. Sie haben eine große Leidenschaft für eine Sache, und sie folgen diesem Begehren, dieser Leidenschaft, trotz aller Widrigkeiten. Diesem Begehren ordnen sie anderes unter, Sicherheit, Bequemlichkeit, Freundschaften, Familie.

Vielleicht kennen Sie von ihren Freundinnen oder auch von sich selbst dieses Phänomen, dass eine Frau zu den unglaublichsten Dingen in der Lage ist, wenn sie sich verliebt hat. Wenn sie sich verlieben, dann werden die unscheinbarsten und ängstlichsten Frauen zu Löwinnen: Sie sind bereit, alles aufzugeben, in ferne Länder zu ziehen, finanzielle Risiken einzugehen. Sie tun Dinge, die sie sich selbst nie zugetraut hätten. So als ob alle Ängste plötzlich weg wären. Das ist die eine Seite. Andererseits ist es dann aber oft auch so, dass sie sich Dinge gefallen lassen, Zumutungen ertragen, sich manchmal sogar schlagen und misshandeln lassen. So als hätten sie keinen Stolz mehr, als hätten sie sich selbst ganz aufgegeben. Und oft steht man dann als Freundin oder als Sozialarbeiterin fassungslos davor und denkt: Wie kann die bloß? Warum lässt sie sich das nur gefallen?

Vielleicht ist das die Antwort: Wo Begehren ist, da ist der eigene Wille sozusagen ausgeschaltet. Eine Frau, die leidenschaftlich begehrt, die ist außer sich, wie man sagt, die lässt sich nicht von vernünftigen Argumenten beeindrucken. Das macht sie stark und schwach zugleich: stark, weil sie sich über Konventionen hinweg setzen kann, schwach, weil sie sich an das, was sie begehrt, bindet, weil sie sich davon abhängig macht.

Wenn sie begehrt, dann ist eine Frau stark – nicht weil sie selbst das will, da würde sie nämlich schnell der Mut verlassen, sondern weil sie sozusagen gar nicht anders kann! Starke Frauen sind, so könnte man sagen, gehorsam gegenüber einer Aufforderung, zu der sie nicht nein sagen können und wollen.

Aber das wirklich freie weibliche Begehren richtet sich, anders als bei unseren verliebten Freundinnen, nicht auf einem Mann, sondern auf etwas anderes, auf Gott, würde Teresa als Mystikerin sagen, auf die Vision einer besseren Welt. Starke Frauen lieben die Freiheit und suchen ein Leben mit Sinn und Würde. Im Patriarchat wurde das weibliche Begehren sozusagen umgelenkt, weg von Gott, weg von der Welt, hin auf den Mann. Frauen sollten nicht die Welt verbessern, sie mussten sich einen Mann angeln. Die Männer haben sich den Frauen gegenüber an die Stelle Gottes gesetzt – und die Frauen haben das zugelassen, die meisten jedenfalls, nicht alle. Aber dennoch: So wurde das weibliche Begehren gezähmt, es war nicht mehr gefährlich.

Dass das weibliche Begehren im Patriarchat auf den Mann als Objekt des Begehrens kanalisiert wurde, hat uns in den Zeiten der Emanzipation dazu gebracht, jedes Begehren, jede Bindung, jede Form der Hingabe abzulehnen. Es kommt uns verdächtig vor, sich nicht mehr unter Kontrolle, nicht mehr im Griff zu haben, nicht mehr Herrin des eigenen Verhaltens zu sein. Als ich meine Freundinnen, mit denen ich essen war, fragte, warum denn ihrer Meinung nach manche Frauen nicht stark sind, antworteten sie spontan: Weil sie zu starke Bindungen haben, weil sie zuviel Rücksicht nehmen, weil sie zuviel darauf geben, was andere sagen. Ich glaube das nicht. Ich glaube, es sind gerade ihre Bindungen, die Frauen stark machen, ihre Beziehungsfähigkeit, wie man so schön sagt. Aber nach dem Ende des Patriarchats muss das weibliche Begehren freigesetzt werden, damit wir uns in Freiheit binden können. Es kommt sozusagen darauf an, diese Stelle, diesen Punkt, auf den sich das Begehren von Frauen richtet, und die im Patriarchat der Mann okkupiert hatte, wieder frei zu räumen und dort Platz zu schaffen, für die vielen Dinge, für die es sich lohnt, so wagemutig, so verrückt zu sein. Sich hingeben, nicht nein sagen können, die eigenen Interessen und Eitelkeiten zurückstellen – das sind weibliche Verhaltensmuster. Aber sie machen nicht unsere Schwäche aus, sondern unsere Stärke. Es sind nämlcih Begleiterscheinungen des Begehrens.

Deshalb ist das Begehren auch etwas anderes, als der Wille, der in unserer philosophischen Tradition als die Grundlage von Stärke gilt. Stark ist, wer einen eisernen Willen hat. Der Wille ist subjektiv, etwas, das ich selbst habe, etwas, das mit meiner Vernunft, meiner Logik, meiner Entscheidung zu tun hat. Ich kann beschließen, dass ich etwas will. Das Begehren dagegen wird von etwas geweckt, das außerhalb von mir ist. Bei Teresa von Avila ist das ganz eindeutig: Nicht sie wollte Klöster gründen, sondern Gott war es, der sie aufforderte, das Klosterleben zu reformieren. Ihr Antrieb kam nicht aus eigener Entscheidung – es war ihr ganz wichtig, das immer zu betonen – sondern durch diese Offenbarungen. Nicht ich will es, Gott will es, sagte sie immer. Ganz ähnlich war es bei Victoria Woodhull: Sie war Spiritistin und betonte immer wieder, sie sei im Auftrag jenseitiger Kräfte unterwegs. Es seien Geister und Engel, die ihr den Befehl gaben, sich in die Politik ihrer Zeit einzumischen. Dorothea Erxleben hat so etwas nicht berichtet. Sie hatte ihre Weisungen nicht von einem Jenseits, aber doch von etwas anderem, es wurde von außen an sie herangetragen: Es waren nämlich die Kranken, die von ihr geheilt werden wollten, die sie um Hilfe anflehten, die mit ihren Bitten ihr klar machten, du musst etwas tun, es ist wichtig, was du tust, wir brauchen dich.

Was aber weckt das Begehren einer Frau, wenn sie sich davon frei gemacht hat, den Mann zu begehren? Erst einmal muss man sagen, dass sich das Begehren nicht herbeiführen lässt. Es muss mir sozusagen geschehen, es kommt dann darauf an, ob ich mich ihm hingebe, ihm folge, oder nicht. Meistens ist es ihr Leiden an einem Mangel in der Welt, der das Begehren einer Frau weckt. Sie kann die Zustände der Welt, so wie sie ist, nicht mehr ertragen. Sie kann sich nicht zufrieden geben mit dem Schicksal einer Frau, mit den Rollenmustern, und auch nicht mit der Unfähigkeit der Männer, die Welt zu regieren. Wie die drei, von denen ich vorhin sprach: Teresa hatte die Vision einer besseren Welt, einer, in der es mehr Raum gibt für Spiritualität und Gotteserfahrung. Dorothea sah eine Welt, in der Kranke besser versorgt werden, Victoria eine Politik, die den Menschen dient und nicht korrupt ist. Das Begehren von Frauen wird geweckt durch einen Mangel in der Welt, etwas, das ihnen fehlt, weil sie vor ihrem inneren Auge eine Welt erblicken, die besser sein könnte. Aus dieser Vision entsteht ihr Drang, etwas zu tun, etwas zu verändern. In den romanischen Sprachen hat sich das noch erhalten: Auf italienisch zum Beispiel heißt Begehren »desiderio«; wie Desiderat, Mangel.

Starke Frauen haben also nicht etwas, ihnen fehlt etwas. Sie sehen einen Mangel, dieser Mangel weckt ihr Begehren, und das macht sie stark. Deshalb lässt sich auch so oft beobachten, dass die Stärke einer Frau mit der Herausforderung wächst. Stark sein ist für Frauen nicht eine Qualität an sich, sie ist daran gebunden, ob es einen Grund gibt, stark zu sein. Je weniger wir haben, desto stärker können wir sein. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum es in den Ländern der so genannten Dritten Welt so viele starke Frauen gibt. Oder warum in Kriegs- und Krisenzeiten die angeblich so schwachen Frauen immer eine außerordentliche Stärke beweisen. Je größer der Mangel ist, desto leichter entsteht auch ein Begehren. Aber das ist nicht zwangsläufig. Es hängt davon ab, dass eine Frau einen Mangel wahrnimmt, daran leidet, eine Leiden-Schaft entwickelt, etwas ändern will. Man könnte auch sagen: Es ist das Begehren, das den Mangel überhaupt erst entstehen lässt. Wenn ich nichts begehre, dann fehlt mir auch nichts. Die Veränderung beginnt genau in dem Moment, wo eine Frau anfängt, zu begehren. Der erste und entscheidende Schritt zum Beispiel, dass Frauen in Deutschland das Recht bekamen, Ärztinnen zu werden, war der Moment, als Dorothea Erxleben ihr Begehren entdeckte, Ärztin sein zu wollen. Alles andere – ihre Zulassung zur Universität, die entsprechenden Gesetze, die heutigen Förderprogramme für junge Medizinerinnen – all ist nichts weiter als eine Folge dieses Begehrens. Nur indem wir etwas begehren, entsteht ein Mangel. Weil wir genau dann anfangen, aufzubegehren, wie man auch sagt, weil wir nur dann die Motivation und die Stärke entwickeln, Verhältnisse, die unserem Begehren im Wege stehen, zu verändern.

Es ist natürlich eine etwas ungewöhnliche Sichtweise zu sagen: Stark ist, wem an etwas mangelt. Denn normalerweise wird ja gesagt, stark ist, wer etwas hat. Zum Beispiel Fähigkeiten, Können, Kompetenzen, Selbstsicherheit. Oder auch die richtigen Gene. Oder glückliche Umstände: Förderer, ein behütetes Elternhaus. Das alles spielt sicher eine Rolle. Natürlich haben starke Frauen gewisse Fähigkeiten und Eigenschaften. Aber ich meine, das ist es nicht, worauf es ankommt. Die drei Frauen, von denen ich vorhin sprach, waren keineswegs besonders prädestiniert dafür, stark zu sein. Vieles an den äußeren Umständen sprach sogar dagegen: Teresa von Avila zum Beispiel war, als sie mit ihren Klostergründungen anfing, schon fast sechzig – also eine alte Frau für damalige Verhältnisse. Dorothea Erxleben war eine Ehefrau und hatte Kinder, also eigentlich gar keine Zeit für ein Studium. Victoria Woodhull war nur drei Jahre zur Schule gegangen, also keineswegs vorherbestimmt für eine politische Laufbahn.

Kompetenzen, Fähigkeiten und Qualifikationen haben viele Frauen. Aber das heißt nicht, dass sie auch starke Frauen sind. Zum Beispiel habe ich eine Kollegin, die sich seit Jahren beruflich fortbildet. Sie belegt Kurse in Rhetorik, Zeitmanagement, Power-Point und so weiter, sie häuft immer mehr Wissen und Kompetenzen an. Aber trotzdem ist sie nicht stark, sie kann zum Beispiel andere nicht überzeugen, sie hat wenig Selbstvertrauen, wird bei jeder Kritik schwankend und stellt alles, was sie tut, gleich wieder in Frage. Ich fürchte, das wird sich auch nicht ändern, egal wie viele Kurse sie noch belegt. Was nützen einer Frau all ihre Kompetenzen und Qualifikationen, wenn sie nicht weiß, wofür sie sie einsetzen will? Wenn sie nicht weiß, was sie begehrt? Wenn sie am Ende gar nichts begehrt?

Vielleicht ist das das Problem unserer Zeit: Wir haben gelernt, den Mann nicht mehr zu begehren. Wir haben aufgehört, dem Mann gehorsam zu sein. Aber was tun wir nun? Wir laufen Gefahr, das Begehren als solches zu verlieren. Wir disziplinieren uns, sind vernünftig, haben uns im Griff. Aber oft stellt sich dann eine Leere, eine Unzufriedenheit ein: Wofür lohnt es sich überhaupt noch, zu kämpfen? Können wir überhaupt noch eine solche Leidenschaft entwickeln, für die wir bereit sind, ein Risiko einzugehen, uns gegen die Konventionen zu stellen? Ich frage mich manchmal, ob das nicht auch der eigentliche Grund ist, warum so viele Frauen unter Depressionen leiden: sie spüren kein Begehren. Oder die heutige Schlankheitsideologie: Das Begehren der Frauen ist, dank der Frauenbewegung, nicht mehr auf die Männer kanalisiert. Aber jetzt passiert etwas viel schlimmeres – ihnen wird das Begehren komplett ausgetrieben, angefangen bei dem ganz grundsätzlichen Begehren, nämlich zu essen, wenn man hungrig ist. Wie soll eine Frau aber auf die Idee kommen oder den Mut finden, ihren Hunger nach Sinn, nach gelingendem Leben, nach einer menschenwürdigen, freien Welt zu stillen, wenn sie sogar schon den körperlichen Hunger für einen Normalzustand hält, den sie ertragen muss? Das Ideal der neuen Superfrauen, die Karriere machen und gleichzeitig drei Kinder großziehen und jeden zweiten Tag im Fitness-Studio sind – nach diesem Ideal ist es eine Schwäche, der Versuchung nachzugeben, gefragt sind hartes Training und Selbstdisziplin. Dem Begehren folgen, das heißt aber offen sein für das Unerwartete, das Unvorhergesehene, das nicht für möglich gehaltene. Aber wie kann ich dafür offen sein, wenn mein Tag von der ersten bis zur letzten Minute schon verplant ist?

Ich befürchte, dieser Zeitgeist könnte dazu beitragen, dass Frauen gar nichts mehr begehren, beziehungsweise ihr Begehren dauernd unterdrücken. Frauen sollen sich, überspitzt gesagt, daran gewöhnen, Hunger zu haben und trotzdem nichts zu essen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Zum Glück scheint das aber nicht wirklich zu funktionieren. Das Begehren ist oft stärker. Genauso wie unsere Diäten dauernd fehl schlagen, genauso stellen wir auch in vielen anderen Bereichen, bei der Arbeit, in der Kindererziehung, unsere ach so vernünftigen Entscheidungen dauernd wieder in Frage. Oft schämen wir uns dann dafür, dass wir nicht konsequent sind. Ich glaube aber, es ist das Begehren, das sich dann zu Wort meldet. Das ist jedenfalls meine Hoffnung: Dass sich das weibliche Begehren nicht wirklich auf Dauer unterdrücken lässt.

Frauen zu stärken, das heißt, ihr Begehren wecken und sie auffordern, diesem Begehren auch zu folgen. Dem weiblichen Begehren einen Platz in der Welt zu geben, es nicht klein machen, es nicht für unwichtig halten. Das Begehren in mir und in anderen Frauen zu suchen, wahrzunehmen, ihm zu folgen.

Ich sagte vorhin ja schon, dass Begehren etwas anderes ist, als der Wille. Der Wille entsteht in meinem Kopf, durch Nachdenken, Vernunft und Logik. Ich habe ihn im Griff. Ich kann einen Entschluss fassen, und ich kann meinen Willen auch wieder ändern. Wie aber entsteht das Begehren? Das ist eher so wie ein Funke der überspringt, der sich ganz plötzlich entzünden kann. Wir können das nicht planen oder vorhersehen, aber wir merken plötzlich, es ist da. Auslöser ist immer ein Moment der Qualität, eine Situation, die attraktiv ist, die mich reizt, die mir zeigt, wie banal und langweilig vieles andere ist. Das kann ein gutes Gespräch sein, ein perfekter Augenblick im Urlaub, eine Situation bei der Arbeit, in der ich über mich selbst hinausgewachsen bin, die Begegnung mit einem besonderen Menschen. Weibliches Begehren ist jedenfalls keine einsame Entscheidung, in dem Sinne, dass ich mich hinsetze und mit überlege, wohin ich nun will. Das weibliche Begehren ist auf die Beziehung angewiesen, es lebt in der Beziehung und kann auch nur dort zum Leben erweckt werden.

Die Philosophin Chiara Zamboni hat das einmal in einem wunderschönen Bild so ausgedrückt: Es ist, so schreibt sie, unsere Seele, die unser Begehren hütet, unsere Seele fühlt sich von den kleinen Funken der Qualität, die manchmal in unserer Umgebung aufblitzen, angezogen, sie ist leidenschaftlich, und sie liebt maßlos. Wenn wir ständig Dinge tun, die nichts mit unserem Begehren zu tun haben, die ihm vielleicht sogar entgegenlaufen, dann langweilt sich unsere Seele, und sie geht weg. Aber wir selbst merken das unter Umständen nicht einmal. Denn die Seele steht sozusagen hinter uns, und sie blickt uns über die Schulter. Die anderen können sie sehen, wir selbst aber nicht. Ob unsere Seele also noch bei uns ist, ob wir unserem Begehren folgen, oder ob wir nur mechanisch tun, was von uns erwartet wird, oder was unsere Vernunft uns einredet, das sehen nur die anderen.

Ich sage Ihnen ein Beispiel: Dieser Reporter von dem ich vorhin sprach, bat mich, ihm doch mal eine starke Frau zu nennen – und damit meinte er eine berühmte Frau von heute, eine, die alle kennen, nicht Teresa von Avila aus dem Mittelalter. Ich druckste herum, überlegte, und es war mir schon ganz peinlich: Sollte mir wirklich keine starke Frau von heute einfallen? Er machte Vorschläge: Angela Merkel? Renate Künast? Gabi Bauer? Ich zuckte immer nur mit den Schultern und kam mir schon ganz dämlich vor. Aber hinterher, als er leider schon weg war, wurde mir klar, warum ich ihm keine starke Frau nennen konnte: Weil ich all die berühmten Frauen, die Merkels, Künasts und Bauers, ja gar nicht kenne. Ich weiß ja nur, wie sie in den Medien dargestellt werden, wie sie sich in der Öffentlichkeit inszenieren. Ich kann im Fernsehen nicht sehen, um im Bild von Chiara Zamboni zu bleiben, ob ihre Seele noch bei ihnen ist, ich weiß nicht, ob sie bei dem, was sie tun, ihrem Begehren folgen, oder ob sie nur tun, was sie glauben, das von ihnen verlangt wird.

Weibliche Stärke, die aus dem Begehren genährt wird, die erkennt man eben nicht an den üblichen Messlatten des Erfolgs. Wir können uns kein offizielles System von Maßeinheiten für weibliche Stärke ausdenken. Um das Begehren in einer anderen Frau zu erkennen, um ihre Stärke wahrzunehmen, dazu muss ich zu ihr eine Beziehung haben. Und das Gleiche gilt natürlich auch für mein eigenes Begehren. Ich kann es nur erkennen in meiner Beziehung zu anderen. Denn mein Ich, meine Vernunft, ist eitel. Mein Ich ist geschmeichelt von Erfolg und Anerkennung. Es will Karriere machen, etwas leisten, es will gelobt und bewundert werden. Und deshalb kann es passieren, dass es mich von meinem Begehren geradezu weg führt. Wo meine Stärke liegt, meine ganz persönliche, was das für ein Begehren wäre, das mich zur Löwin werden ließe, das kann mir kein Ratgeber sagen, und ich selber kann es auch nicht. Nur in der Beziehung zu anderen sehe ich, an ihren Reaktionen kann ich es merken, wenn mein Ich, meine Vernunft, mein Wille mich in die falsche Richtung schicken und die Seele sich abwendet, weil mein Tun nichts mehr mit meinem Begehren zu tun hat.

Aber wir brauchen die Beziehung zu anderen Frauen auch noch aus einem anderen Grund. Denn das Begehren hat auch seine Schattenseiten. Ein so starkes Begehren wie das weibliche birgt Gefahren. Eine davon ist der weibliche Größenwahn. Eine Frau, die begehrt, die macht das Unmögliche möglich. Nichts kann sie aufhalten, ihr Begehren ist so groß, dass sie sich nicht von vernünftigen Argumenten in ihre Schranken weisen lässt. Aber was, wenn das Begehren eine Frau auf den Scheiterhaufen bringt, so wie es ja manchen passiert ist, ich erinnere zum Beispiel an Margarete Porete oder Johanna von Orleans? Oder wenn sie ins Irrenhaus gesteckt werden, wie es vielen Frauen im 19. Jahrhundert geschehen ist und auch heute noch passiert? Was, wenn sie vor lauter Leidenschaft Menschen verachtend werden, wie die Frauen bei der RAF? Oder Schreckliches anrichten, wie die palästinensischen Mädchen, die sich einen Bombengürtel umschnallen und sich und viele Unschuldige in die Luft jagen?

Das weibliche Begehren weckt ungeahnte Kräfte, es macht uns stark, aber es ist auch maßlos. Der Wille ist vernünftig, das Begehren ist unvernünftig. Eine Frau, die begehrt, lässt alle Vorsicht fahren. Das Begehren macht Frauen stark, aber Stärke ist nicht an und für sich gut. Sie kann auch zerstörerisch sein. Deshalb braucht das weibliche Begehren eine Gegenseite, etwas, das ihm Halt und Orientierung gibt: Und das ist weibliche Autorität.

Die traditionellen, von Männer gemachten Ordnungen, die Gesetze und Sitten sind nämlich nicht geeignet, um der Maßlosigkeit des weiblichen Begehrens eine Grenze zu setzen. Die Gesetze der Männer können nicht zwischen einer Heiligen und einer Terroristin unterscheiden. Zum Beispiel haben ihre Gerichte eine wie Theresa von Avila zur Heiligen gemacht, und eine wie Margarete Porete, die ebenfalls eine große Mystikerin war, auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Aus weiblicher Perspektive, aus der Perspektive des weiblichen Begehrens, war das reiner Zufall. Die beiden waren sich sehr ähnlich, es hätte genauso gut andersrum ausfallen können. Die Welt der Männer, ihre patriarchale Kultur, hat für das weibliche Begehren keinen Ort. Sie kann es nicht einordnen, versteht es nicht, hat sogar Angst davor, weil es die geordneten Verhältnisse in Frage stellt. Und weil man mit ihm nicht vernünftig argumentieren kann.

Aber ohne Autorität, ohne eine Ordnung, die Strukturen, Kriterien und Maßstäbe bereit hält, kann sich das weibliche Begehren nicht ausdrücken und entfalten, findet es keine Worte, findet keine Orientierung. Es platzt einfach so heraus und läuft deshalb tatsächlich Gefahr, maßlos, verrückt, gefährlich zu sein. Es bleibt ein wildes Knäuel von Gedanken und Emotionen.

Was genau ist weibliche Autorität, werden Sie jetzt fragen? Am besten können Sie sich das vielleicht vorstellen, wenn sie sich eine Mutter und ihre Tochter anschauen, sagen wir mal, sie ist vier – die Tochter. Sie kann schon laufen, sie ist neugierig, sie steckt voller Begehren. Kinder sind übrigens große Lehrmeister darin, was es heißt, etwas zu begehren. Die Welt lockt sie und die vielen tollen Dingen, die sie sehen und von denen sie phantasieren. Sie folgen ihrem Begehren unmittelbar: Da die schöne Blume auseinander nehmen, dort den Mülleimer inspizieren, und dann ganz schell über die Straße rennen, um den Pudel zu streicheln, der dort vor dem Laden angebunden ist. Die Kinder können das alles ausprobieren, bis an ihre Grenzen gehen, sie sogar überschreiten – aber nur weil sie unter dem Schutz einer weiblichen Autorität stehen, in einer mütterlichen Ordnung. Die Mutter fördert und unterstützt das Begehren des Kindes, sie ermutigt die Tochter, aber sie setzt ihr auch Grenzen, schützt sie vor Gefahren, gibt ihr Ratschläge, nimmt sie an die Hand, wenn notwendig. Wie genau das vonstatten geht, ob gut oder schlecht (denn es gibt natürlich auch schlechte Mütter), das steht in keinem Gesetz geschrieben, sondern es hängt immer von der konkreten Beziehung der beiden ab, es ist Verhandlungssache – und Kinder sind großartig darin, über ihr Begehren zu verhandeln.

So ähnlich können Autoritätsbeziehungen auch zwischen erwachsenen Frauen funktionieren. Zum Beispiel zwischen der Studentin, die eine gewagte wissenschaftliche These in ihrem Kopf formt und der Professorin, die erfahren ist, die auch weiß, dass es so einfach nicht sein wird, sie aber nicht entmutigt, sondern sie fördert. Oder zwischen der Sekretärin, die seit zwanzig Jahren in einer Institution arbeitet und der neuen Chefin – die Neue will vielleicht alles ganz schnell verändern, die Sekretärin aber kann sie vor Fallstricken warnen, vor Empfindlichkeiten bestimmter Kollegen, sie kann sie auf ungeschriebene Gesetze hinweisen und sie davor bewahren, dauernd ins Fettnäpfchen zu treten. Weibliche Autorität hilft Frauen dabei, ihrem Begehren zu folgen, ohne dabei maßlos zu werden und sich selbst und anderen zu schaden.

Frauen stärken Frauen – das bedeutet für mich deshalb, dass wir uns die Beziehungen, die

wir zu anderen Frauen haben, unter dem Aspekt von Begehren und Autorität anschauen und sie dann bewusst gestalten. Dass wir uns kar machen, was wir begehren, welche Frau uns dabei helfen könnte, diesem Begehren zu folgen, und dieser Frau sollten wir Autorität zusprechen. Wir sollten uns und unser Begehren ihr anvertrauen – affidamento ist das italienische Wort für »anvertrauen«, manche von ihnen haben das vielleicht schon einmal gehört, denn es waren italienische Philosophinnen, die diese Bedeutung der Beziehung unter Frauen zuerst entdeckt haben. Einer Frau Autorität zu zusprechen, uns ihr anvertrauen, das heißt nicht, wir sollten uns ihr unterordnen, sondern es heißt: Wir können Ansprüche an sie stellen, wir können etwas von ihr erwarten. Weibliche Stärke, weibliche Größe ist keine Bedrohung für die Schwächeren, die Kleineren, sondern gerade für sie eine Chance, daran zu wachsen. In ihre eigene Richtung, nicht in die der anderen.

Weibliche Stärke ist nicht, wie männliche Stärke, eine Messlatte nach dem Motto: je mehr, desto besser. Ich sage »männlich« und »weiblich« hier übrigens immer in Anführungszeichen, weil es mir nicht um quasi natürliche Wesensmerkmale von Frauen und Männern geht. Auch Frauen haben selbstverständlich einen subjektiven Willen, und auch Männer können begehren. Es ist nur so, dass ich von den Männern viel über den Willen gelernt habe, etwa in ihren Philosophiebüchern, die ich an der Universität studierte. Aber erst von den Frauen, von Philosophinnen, die sich bemüht haben, zu verstehen, wie Frauen sich verhalten, was sie sagen und tun, erst da habe ich etwas über das Begehren gelernt. Es ist ein weibliches Wissen, ein weiblicher Erfahrungsschatz, von dem ich spreche, nicht eine weibliche Natur.

Weibliche Stärke lässt sich nicht messen, sie hat nichts mit Konkurrenz und Wettkampf zu tun. Männliche Stärke ist sozusagen objektiv: Wer springt am weitesten, rennt am schnellsten, verdient am meisten Geld, hat den höchsten Posten? Weibliche Stärke dagegen ist immer an ein Begehren geknüpft – das heißt, sie ist individuell, nicht vergleichbar mit der Stärke von anderen, sondern immer relativ. Wenn ich das Begehren habe, Kranke zu heilen, dann hilft es mir nichts, schnell rennen zu können. Jede Frau muss ihr ganz eigenes Begehren finden und ihm folgen. Und damit auch ihre eigene Stärke entwickeln, die sich daran misst, ob sie das Begehren verwirklicht, nicht daran, ob andere stärker oder schwächer sind.

Wir müssen also den Mut haben, uns aktiv von anderen Frauen zu unterscheiden, und wir können es zulassen, dass andere Frauen sich von uns unterscheiden. Weil weibliche Stärke nichts mit Konkurrenz zu tun hat, sondern an das Begehren gebunden ist, können wir das zulassen, wir können uns sogar darüber freuen, dass eine andere Frau uns überragt, dass sie Größe zeigt, dass sie besser ist und mehr Erfahrungen hat. Denn damit schafft sie vielleicht Möglichkeiten für andere. So wie Dorothea Erxleben, deren Begehren sie dazu brachte, Ärztin zu werden. Sie musste dafür noch sehr stark sein. Heute können Frauen Ärztinnen werden, ohne dass sie besonders stark sein müssen. Frauen wie Dorothea Erxleben haben es für sie möglich gemacht.

Es gibt allerdings einige Hindernisse, die es uns schwer machen, weibliche Autorität wahrzunehmen. Ein großes Hindernis ist es, dass in unserer Kultur normalerweise Autorität und Macht gleichgesetzt wird. Das ist aber Unsinn. Besonders deutlich wird das am Beispiel mütterlicher Autorität. Eine Mutter hat natürlich Macht über ihr Kind – denn sie ist stärker, kann bestimmen, was das Kind tun soll. Aber sie hat auch Autorität, denn das Kind vertraut ihr, fragt sie, orientiert sich an ihr, und zwar freiwillig. Autorität wird immer freiwillig zugesprochen, es ist unmöglich, sie zu erzwingen. Sie ist, wie ich schon sagte, Verhandlungssache zwischen zwei Menschen aus Fleisch und Blut. Die Beziehung zwischen zwei Frauen, von denen die eine wie eine Tochter begehrt, große Wünsche hat und große Taten vollbringen will, und einer, die Autorität hat, die wie eine Mutter die Erfahrung der Niederlage schon gemacht hat, die vermitteln kann zwischen den großen Wünschen der anderen und der Welt, so wie sie nun einmal ist, eine solche weibliche Autoritätsbeziehung hat nichts mit Macht zu tun. Wie im Beispiel der Sekretärin und ihrer Chefin kann die reale institutionelle Macht sogar genau andersrum verteilt sein. Macht kommt erst dann ins Spiel, wenn keine Autorität mehr da ist. Wenn jemand seine Macht einsetzen muss, dann ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass er seine Autorität bereits verloren hat.

Ein anderes Hindernis, weibliche Autorität wahrzunehmen ist, dass wir eine Scheu haben, die Unterschiede zwischen Frauen zu benennen. Sie sind uns peinlich, lieber wäre uns, wir wären alle gleich und der Austausch basierte, wenn überhaupt, auf Gegenseitigkeit. Das kommt daher, dass Gleichheit in unserer Kultur ein Ideal ist, während Ungleichheit als Gefahr gilt. Aber Gleichheit ist nur eine abstrakte Theorie. Im wirklichen Leben gibt es keine Gleichheit, sondern nur Ungleichheit. Dieses wirkliche Leben zu meistern, das wird nicht dem gelingen, der schöne Theorien über die Gleichheit aufstellt, sondern denjenigen, die am besten in der Lage sind, mit der realen Ungleichheit umzugehen. Eine weibliche Philosophie, die auf der Praxis von Begehren und Autorität beruht, kann uns genau das lehren: Die Ungleichheit der Menschen nicht auf eine Weise zu verstehen, die Konkurrenz, Neid und Unterdrückung bewirkt, sondern als Fülle, von der alle profitieren können.

Frauen stärken Frauen – das heißt, weibliches Begehren sichtbar zu machen und weibliche Autorität sichtbar zu machen. Aber wie macht man Autorität sichtbar? Das geht nicht durch Preise und Ehrungen, durch Titel oder Ämter, weil man weibliche Stärke eben nicht objektiv messen kann so wie die Zentimeter eines Weitsprungs oder die Sekunden eines 100-Meter-Laufes. Weibliche Stärke ist keine Leistung, die umso besser ist, je mehr sie die Leistung der anderen übertrifft, sondern sie existiert nur in der konkreten Beziehung zu anderen Frauen, und daher muss sie auch in dieser konkreten Beziehung symbolisch sichtbar gemacht werden. Eine gute Möglichkeit dazu ist zum Beispiel Dankbarkeit (auch das haben die meisten von uns sicherlich von ihrer Mutter gelernt) – Bitte und Danke sagen, das macht Verdienste deutlich, die in der Beziehung zwischen zweien zirkulieren. Verdienste, die zwar nicht in Konkurrenz zu anderen treten, die auch nicht objektiv messbar sind, die aber trotzdem öffentlich sichtbar gemacht werden können und müssen, wenn wir unsere Ideen, unsere Kultur, unsere Politik nicht länger nur dem männlichen Konzept von Stärke überlassen wollen.

Dankbarkeit zu zeigen, das hat daher nicht nur etwas mit gutem Benehmen zu tun, es macht auch weibliche Stärke und Autorität sichtbar und verändert damit die symbolische Ordnung unserer Gesellschaft. Und es macht deutlich, dass die Beziehungen wichtig sind, nicht Orden und Rangabzeichen. Ich bin zum Beispiel Luisa Muraro dankbar, einer italienischen Philosophin, von der ich viel gelernt habe, und ohne die ich diesen Vortrag nicht hätte halten können. Ich bin auch Martina Gnadt dankbar, die mich hierher eingeladen hat, weil sie mir zugetraut hat, dass ich Ihnen etwas Hilfreiches sagen könnte. Ohne dass andere etwas von mir erwarten, kann ich nicht stark sein. Ohne dass die Kranken von Dorothea Erxleben geheilt werden wollten, wäre sie niemals Ärztin geworden. Ohne dass ihre Nonnen sie aufforderten, ihnen Wege zu einer intensiveren Spiritualität zu öffnen, hätte Teresa von Avila niemals Klöster gegründet. Die eigene Eitelkeit ist für viele Frauen kein ausreichendes Motiv, um sich in etwas hinein zu knien, um Risiken einzugehen, um Konventionen zu brechen. Daher: Scheuen Sie sich nicht, Ansprüche an andere Frauen zu stellen, etwas von ihnen zu erwarten. Trauen Sie sich, anders ausgedrückt, zu anderen Frauen Bitte und Danke zu sagen. Sie werden viel dazu beitragen, Frauen zu stärken.

Vielleicht wäre das ein guter Anfang: Überlegen Sie doch einfach einmal, wem Sie eigentlich dankbar sind. Wem Sie Autorität zusprechen, und wer Ihnen Autorität zuspricht. Wo ihr Begehren liegt. Und: Überlegen Sie ruhig auch, wer Ihnen eigentlich dankbar sein müsste und scheuen Sie sich nicht, dies auch einzufordern. Das ist nicht egoistisch oder altmodisch, sondern es ist Teil unserer Arbeit an einer neuen symbolischen Ordnung der Welt. Es rückt die Dinge in ein neues Licht.

Sich mit dem eigenen Begehren dem urteil und der Autorität einer anderen Frau anfertrauen – das ist auch eine Antwort auf das Dilemma, die Widersprüchlichkeit, die meine Freundinnen beim Abendessen zum Ausdruck brachten: Eine Frau ist stark, so sagten sie, wenn sie sich nicht von den Konventionen und dem, was andere meinen, von ihrem eigenen Weg abbringen lässt, aber dabei gleichzeitig offen ist für Ratschläge, für Hinweise, für das, was andere ihr dabei mitgeben können. Das ist nämlich gar kein Widerspruch. Denn nicht Unabhängigkeit macht Frauen frei und stark, sondern die freiwillige und bewusste Bindung an weibliche Autorität.

Dass Frauen ihrem Begehren folgen, und damit komme ich zum Schluss, ist im übrigen nicht deshalb wichtig, weil es ihr gutes Recht wäre, das zu tun, wonach ihnen der Sinn steht. Es ist niemandes Recht, den eigenen egoistischen Willen zu verfolgen (auch nicht das der Männer). So eine Haltung richtet die Welt zugrunde. Dass Frauen ihrem Begehren folgen ist deshalb wichtig, weil das weibliche Begehren gerade nicht aus dem Egoismus und der Eitelkeit einer einzelnen erwächst, sondern angezogen wird von der möglichen Qualität einer besseren Welt. Weil es genährt wird aus der Notwendigkeit, dem Mangel, der Bedürftigkeit. Weil es die Tür offen hält, durch die Neues in die Welt kommen kann. Das Begehren ist der Motor, der es möglich macht, dass die Dinge sich verändern, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, egal wie aussichtslos die Lage auch sein mag.

Es ist wichtig, dass Frauen in diesem Sinne andere Frauen stärken – nicht die Frauen allgemein, als vermeintlich homogene Masse, sondern die konkrete Frau, mit der wir es in zu tun haben: die Kollegin, die Freundin, die Tochter, die Nachbarin. Wir brauchen starke Frauen, die etwas riskieren, deren Begehren so groß ist, dass sie Dinge tun, die eigentlich unmöglich sind. Dass starke Frauen ihrem Begehren folgen und sich dabei nicht einschüchtern lassen von den vermeintlich vernünftigen Einwänden, die sagen: das geht nicht, das hat doch sowieso keinen Zweck, du bist ja verrückt – weil Frauen es trotzdem probieren, weil sie sich, wie Luisa Muraro es einmal sagte, aus dem Fenster der Welt herauslehnen, verrückterweise, aber getrieben von ihrem Begehren, von ihrer Ahnung, dass es auch anders, besser sein könnte – dadurch kann es geschehen, dass das bislang Unmögliche tatsächlich möglich wird. Dass Dinge sich verändern. Starke Frauen bringen Neues zur Welt, sie machen einen neuen Anfang. Für alle Frauen. Auch für die, die vielleicht weniger stark sind.

Vortrag am 31. August 2002 beim Frauentag der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck in Fulda

  • am 26. Oktober 2002 beim Ökumenischen Frauenfrühstück in Offenbach

  • am 9. November 2002 beim Kurs »Kompetent in die Öffentlichkeit« in Bad Honnef-Rhöndorf

  • am 24. September 2003 im Kulturcafé Groß-Gerau

  • am 28. April 2004 im Frauen-Kulturcafe Weiterstadt

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Pressebericht zu dieser Veranstaltung (epd)