Antje Schrupp im Netz

Feministische Utopien

Podiumsdiskussion beim Landeskirchentag 3.6.2006 in Gelnhausen

1. Utopie und Realität sind keine Gegensätze

Normalerweise gilt »utopisch« als Gegenteil von »realistisch«. Und so werden immer gerne »Sachzwänge« eingeführt gegen die schöne, aber eben illusorische Utopie.

Diese Gegenüberstellung finde ich falsch.

Klassische feministische Utopien sind zum Beispiel: »Frauen sind frei« oder »Frauen haben das Recht, zu wählen« oder »Frauen können alles«. Schön finde ich auch die Utopie, die Michaela Moser von der Österreichischen Armutskonferenz vor einiger Zeit ins Spiel gebracht hat, die sagt: »Frauen sind reich« – und damit das Denken öffnet für eine andere Art von Reichtum als dem immer mehr Anhäufen an Geld.

Wenn wir so etwas sagen, dann sprechen wir sowohl von der Zukunft, von unseren Visionen, von unseren Wünschen, und gleichzeitig beschreiben wir damit die Wirklichkeit. Und mehr noch: Wir schaffen damit auch Wirklichkeit. Das liegt daran, dass Sprache und Realität aufeinander bezogen sind: Die Realität bewirkt, was wir sagen, und was wir sagen, verändert die Realität – zum Beispiel, weil es andere inspiriert, aktiv zu sein, Ideen zirkulieren lässt und so weiter.

In meinem Büchlein »Zukunft der Frauenbewegung« habe ich auch solche Sätze geschrieben wie »Frauen sind frei« oder »Das Patriarchat ist zu Ende«. Manche Feministinnen haben mich dafür kritisiert und behauptet, diese Sätze seien falsch: Frauen sind doch überhaupt noch nicht frei und das Patriarchat ist doch überhaupt noch nicht zu Ende.

Das heißt, sie haben die Realität gegen die Sprache und das, was sie an Wahrem sagen kann, ins Feld geführt. Aber die Sprache ist nicht nur ein Abbild des Faktischen, sie ist immer auch utopisch in dem Sinne, dass sie mehr sagen kann als das, was jetzt schon Fakt ist. Und trotzdem bleibt sie an die Realität gebunden, denn nur dann ergibt sie einen Sinn. Natürlich kann ich auch etwas völlig Realitätsfernes sagen wie zum Beispiel: Frauen stammen von einem anderen Planeten ab und werden irgendwann die Welt retten. Aber das wird kaum Wirkung entfalten, weil es keine Anknüpfungspunkte gibt zwischen der Realität und der Utopie.

Die Italienerinnen bezeichnen dieses Spiel zwischen der Sprache und der Realität als eine Wette und das ist ein Bild, das mir sehr gut gefällt. Frauen sind frei – wetten, dass? Frauen können alles – wetten dass? Das Patriarchat ist zu Ende – wetten, das?

Natürlich kann ich mich mit meinen Utopien auch irren, so wie ich eine Wette auch verlieren kann. Aber eine Utopie wird nicht dadurch unwahr, dass sie noch nicht überall eine Tatsache ist. So war der Satz, dass Frauen das Recht haben zu wählen, auch schon wahr, bevor das Wahlrecht wirklich durchgesetzt war.

Die Realität ist nicht einfach objektiv vorhanden, sondern das, was ist, wird erst real dadurch, dass es ausgesprochen und gedacht wird und so zum Zirkulieren kommt.

2. Utopien sollten möglichst unkonkret sein

Häufig gibt es – mehr bei Männern als bei Frauen, aber auch bei diesen – den Wunsch, dass Utopien möglichst konkret sein sollen. Es gibt ja viele Werke zum Beispiel über den idealen Staat oder die ideale Welt in der utopischen Literatur, wo dann bis ins Detail alles geregelt ist.

Ich bin hingegen der Meinung, dass Utopien ruhig ein bisschen schwammig bleiben sollten. Weil es im Bezug auf politische Veränderung nämlich mehr auf die Vermittlung einer Idee ankommt als auf die Genialität und Richtigkeit einer Idee.

Ein gutes Beispiel für mich ist zur Zeit die Utopie, es könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen geben, das allen Menschen unabhängig von der Erwerbsarbeit ihr materielles Auskommen sichert. Diese Bewegung, die ich sehr unterstütze, krankt meiner Meinung nach sehr daran, dass die verschiedenen Initiativen ihren Ehrgeiz daran setzen, das ganz bis ins letzte Detail auszuarbeiten. Man streitet sich darüber, ob dieses Grundeinkommen nun 600 oder 800 Euro sein soll, an wen genau es ausbezahlt werden soll und von wem genau, und welcher der tausend detaillierten Finanzierungspläne der bessere ist. Und so verheddert man sich in den Details und führt Grabenkämpfe, anstatt mit dieser Idee, dieser Utopie zu spielen: Wie es wäre, wenn niemand mehr Angst um die Existenz hätte, wie das unsere Gesellschaft verändern würde und welche Kreativität das freisetzen könne. Erst einmal muss diese Idee wirken, müssen Menschen sich mit ihren Wünschen und ihrem Begehren damit in Verbindung setzen, muss dieser Gedanke sich ausbreiten und Wirkung entfalten. Über die Details können wir uns dann später Gedanken machen.

Nur wenn Utopien so offen gehalten werden, dass wir sie anderen nicht überstülpen, sondern Raum für das persönliche Begehren der Einzelnen schaffen, haben damit eine realistischere Chance, Wirkung zu entfalten. Und den einen genialen Plan dafür gibt es nie.

Zum Beispiel entzündete die Utopie, dass Frauen frei sind oder dass das Patriarchat zu Ende sei, gerade weil sie so »unkonkret« ist, das Begehren vieler Frauen, die sie auf sehr unterschiedliche Art und Weise und teils sogar gegensätzlich füllten. Diese Utopie bedeutet für die einen die Abschaffung der Geschlechter, für die anderen die Rückkehr der großen Muttergöttin usw. Aber diese gegensätzlichen konkreten Füllungen einer gemeinsamen Utopie haben der Frauenbewegung keineswegs geschadet, im Gegenteil, sie ermöglichten es, ganz unterschiedlichen Frauen mit ihren jeweiligen Erfahrungen, Meinungen, Vorstellungen sich ganz persönlich mit dieser Idee zu verbinden. Und jede tut dann etwas, womit die Freiheit der Frauen immer größer wird.

Und das ist dann ja doch eigentlich ganz konkret. Nämlich in dem Sinne, dass irgend jemand etwas konkretes tut, wenn auch eben nicht alle dasselbe. Die Gedankenspiele von utopischen Idealgesellschaften hingegen, in denen bis ins Detail festgelegt ist, wie diese ideale Welt aussieht, die entpuppen sich dann doch als eher abstrakt.