Antje Schrupp im Netz

Weibliche Spiritualität und politische Praxis

Es ist heutzutage fast unmöglich, von Gott zu sprechen. Unmöglich, weil das Wort durch diejenigen diskreditiert ist, die von Gott so sprechen, als sei er ein Objekt, eine Marke, ein Label, irgend etwas, das zu bewerben, zu beweisen, an das zu glauben oder für das sogar zu kämpfen sei.

Und zwar machen das nicht nur fundamentalistische Gotteskämpfer. Unser Gott ist der beste, unser Glaube ist der liberalste, wir brauchen mehr Profil – auch in der evangelischen Kirche wird so argumentiert. In Hessen haben wir zum Beispiel einen Slogan, der heißt »Evangelisch aus gutem Grund«. Behauptet wird, man müsste zunächst mehr »eigene Identität« ausbilden, um mit anderen Religionen ins Gespräch zu kommen. Deshalb soll es zum Beispiel weiterhin konfessionellen Religionsunterricht geben.

Auf der anderen Seite ruft das Wort Gott reflexartige Abwehrbewegungen hervor bei denen, die alles, was mit Religion zu tun hat, für überholt, widerlegt, auf jeden Fall aber für äußert suspekt halten.

Keine Frage, dass beide Seiten sich mit großer Verve bekämpfen, was nur bedeutet, dass sie sich gegenseitig am Leben halten.

Frauen beteiligen sich allerdings deutlich seltener als Männer an diesen Auseinandersetzungen. Sie sehen verschiedene religiöse Traditionen eher als Reichtum, auf Grund unterschiedlicher historischer Erfahrungen und kultureller Hintergründe gibt es verschiedene Zugänge, aber es geht doch um ein gemeinsames Anliegen.

Ich glaube, das ist der Grund, warum viele Frauen nicht gerne von Gott oder Glauben oder Frömmigkeit sprechen, sondern lieber von Spiritualität. Mit diesem Wort machen sie deutlich, dass es ihnen weniger um einen bestimmten Glaubensinhalt geht, den sie verteidigen möchten, sondern vielmehr um eine religiöse Praxis. Aber wie genau sieht diese Praxis aus? Ist sie nur privat und persönlich? Oder hat sie auch politische Implikationen?

Als politische Bewegung ist Spiritualität heute kaum noch präsent, eigentlich fast gar nicht. Das weltliche Wirken der Kirchen beschränkt sich darauf, sozialdiakonische Einrichtungen zu betreiben und hin und wieder zu politischen Themen Stellung zu nehmen, allerdings mit einem argumentativen Hintergrund, der ebenso gut aus einer humanistischen Tradition kommen könnte.

Die Einzigartigkeit und die Würde jedes Menschen ist dabei das Hauptargument, und das ist natürlich auch gut und richtig, aber – es ist nicht speziell religiös. Es ist humanistisch

Wenn heute öfter gesagt wird, wir hätten eine »Renaissance der Religion«, so glaube ich das nicht. Im Bezug auf den Islam etwa geht es eigentlich auch nur um institutionelle Frage, die Anerkennung und Institutionalisierung der Muslime, die Etablierung eines islamischen Religionsunterrichtes und dergleichen. Es geht dabei nicht um Gott. Und auch in der Esoterik geht es häufig darum, Techniken zu finden, sich selbst »fitter« zu machen, besser zu werden.

Die Suche nach Gott, nach den Wurzeln von Religiosität, ist in all diesen Richtungen bei einzelnen sicher vorhanden, ich würde auch sagen, sie ist sogar bei ganz unreligiösen, atheistischen Menschen vorhanden. Aber als gesellschaftspolitisch relevantes Phänomen ist sie nicht vorhanden. Zwar wird viel über Religion geredet heutzutage, aber dabei geht es im Wesentlichen um Repräsentanz, Institutionen, Status, Geld und oft auch um Kommerz.

Für solche interreligiöse Positionsbestimmungen interessieren sich deutlich mehr Männer als Frauen. Im Frankfurter Rat der Religionen etwa sind von fast allen Religionsgemeinschaften männliche Repräsentanten geschickt worden.

Allerdings haben sich neue spirituelle Räume innerhalb der Kirche entfaltet, meistens auf Initiative von Frauen. Sie haben neue Liturgien, neue Formen, neue Arten der Raumgestaltung erfunden. Aber welches ist die Implikation davon? Haben sie wirklich die Kirche, die religiösen Institutionen verändert?

Mein Eindruck ist, dass die Bemühungen der feministischen Spiritualität vor allem darauf ausgerichtet sind, den religiös interessierten Frauen einen Ort innerhalb der Kirche zu schaffen. Die starren traditionellen kirchlichen Formen so weit zu verändern, dass Frauen sich darin wohl fühlen. Das ist nicht wenig.

Aber darin kann es sich nicht erschöpfen, oder jedenfalls interessiert mich dieser Aspekt nicht. Ich interessiere mich für eine sinnvolle Politik und Weltgestaltung. Und in dieser Hinsicht gibt es doch eher wenige Impulse, die von spirituellen Frauen in die politische Arena und in die Öffentlichkeit ausstrahlen. Hier dominieren nach wie vor Männer die Debatten, wenn man sich zum Beispiel die interreligiösen Dialogforen und so weiter anschaut. Ich glaube auch, dass es wieder ein wachsendes Unbehagen von Frauen gibt gegen kirchliche Ämter – jetzt, wo wir erkämpft haben, dass wir sie haben dürfen, stellen wir da nicht fest: Wir wollen sie eigentlich gar nicht? Wir haben gar kein so großes Bedürfnis, Bischöfin zu sein? Beim Rücktritt von Margot Käßmann etwa hatten doch viele den Eindruck: Einerseits schade, aber andererseits ist sie jetzt wieder frei.

Die Institutionen vermännlichen wieder. Das evangelische Kirchenparlament in Frankfurt, das sich letzte Woche neu konstituiert hat, besteht wieder zu 76 Prozent aus Männern. Überall wird darüber geklagt, dass Frauen nicht bereit sind, für Ämter und Gremien zu kandidieren, ich habe gehört, in der Nordkirche soll es sogar ein spezielles Programm dafür geben.

Ich denke, dass es notwendig ist, den dahinter stehenden Konflikt zu bearbeiten. Es ist nicht nur eine Frage von Zahlen oder Quoten, sondern der Qualität.

Dass ich selbst »fromm« bin, hat zum Beispiel nichts oder nur sehr wenig mit der Institution Kirche zu tun. Dass mir das Wort »Gott« etwas sagt, habe ich nicht von professionellen Religionsvertretern oder von christlichen Ritualen gelernt, sondern das habe ich säkularen Philosophinnen zu verdenken.

Simone Weil zum Beispiel, deren 100. Geburtstag in voriges Jahr war. Sie war ja ursprünglich kein religiöser Mensch, ihre Eltern waren Intellektuelle jüdischer Herkunft, sie selbst war anarchistische Sozialistin. Doch sie stellte fest, dass etwas fehlt, dass eine rein innerweltliche, humanistische Position nicht ausreicht, um in der Welt tätig zu sein. Sie lebte in einer Extremsituation, konfrontiert mit dem Nationalsozialismus, und sie hat sich politisch dagegen engagiert. Bis sie zu dem Punkt kam, dass dieses politische Engagement nichts nützt. Dass es nicht aus dem Dilemma hinausführt. Diese Hoffnungslosigkeit hat sie zu der Auffassung gebracht, dass es Gott geben muss. Es waren also »säkulare« Gründe, die sie dazu gebracht haben, Mystikerin zu werden, nach »Klarheit« und »Wahrheit« anderswo zu suchen als in politischen Programmen und Ideologien. Aber das war für sie eine politische Angelegenheit, und nicht eine speziell religiöse.

Ich lernte das Denken von Simone Weil nicht in der Schule und auch nicht in der Kirche, sondern durch die Vermittlung italienischer Philosophinnen rund um den Mailänder Frauenbuchladen und die Philosophinnengemeinschaft Diotima an der Universität von Verona. Auch sie sind nicht religiös, aber sie haben das Denken der Mystikerinnen als eine weibliche politische Praxis entdeckt, von der sie selbst lernen und profitieren können: Teresa von Avila, Margarete Porete und andere Beginen, aber eben auch moderne Mystikerinnen wie Simone Weil oder Clarice Lispector.

Der politische Ausgangspunkt der »Mailänderinnen« war die Frage: Wie entsteht weibliche Freiheit? Ihre These ist: Weibliche Freiheit entsteht weder durch rechtliche Gleichstellung mit den Männern, also Emanzipation, noch durch den Rückgriff auf eine vermeintlich »natürliche« Weiblichkeit. Sondern weibliche Freiheit entsteht in der Beziehung unter Frauen, die sich untereinander über ihre Wünsche, Ideen, Erfahrungen austauschen und so zu Urteilen und Handlungsmöglichkeiten finden. Indem sich eine Frau mit ihrem Begehren der Autorität einer anderen Frau anvertraut – auf italienisch: affidarsi –, öffnet sich ihr ein »Mehr« an Möglichkeiten, an Spielräumen, an Ideen, kurz: Ihre Freiheit wird größer.

Während die Philosophie der Aufklärung Freiheit in der Regel als Unabhängigkeit und Autonomie interpretiert hat, verstehen sie Freiheit als Bindung an ein »Mehr«, wodurch das eigene Begehren eine Frau über die Grenzen des derzeit für möglich Gehaltenen hinausführen kann. Subjektivität und Objektivität, Diesseits und Jenseits, Mensch und Gott werden nicht als Gegensätze interpretiert, die sich ausschließen, auch nicht als Komplementaritäten, die sich ergänzen, oder – postmodern – als Relativitäten, die sich auseinander herleiten.

Ausgangspunkt ist also das Begehren einer Frau, was nicht dasselbe ist wie der subjektive Wille. Das Begehren verweist vielmehr auf einen Mangel in der Welt, so wie sie derzeit ist– das italienische desiderio verweist auf das Desiderat, das noch zu Wünschende. So wie Simone Weil den Mangel an politischen Optionen sah, weil sie nach mehr, nach anderem begehrte.

Das Begehren, das sich auf das Andere richtet, auf das, was (noch) nicht ist, bringt aber die Transzendenz ins Spiel, jenes Andere also, das möglicherweise auch »Gott« genannt werden kann.

In ihrem aktuellen Buch »Der Gott der Frauen« hat Luisa Muraro das Wissen und die Erfahrungen jener Frauen in Erinnerung gerufen und für heute fruchtbar gemacht, die in früheren Jahrhunderten – speziell im späten Mittelalter – das Wort »Gott« verwendeten, um etwas zu sagen, das Muraro als Philosophin interessiert.

Wer war Gott für diese Frauen, die Beginen und die Mystikerinnen des 13. und 14. Jahrhunderts? Muraro schreibt: »Meinem derzeitigen Verständnis nach – das heißt dem einer Frau, die ihrerseits nicht an Gott glaubt und jene Texte nicht als Zeugnis eines Glaubens liest, sondern eher als Dokumente eines Wissens, das sie sehr nahe betrifft – war Gott für jene Frauen hier und da, er war sehr weit entfernt und sehr nah, er war der andere und die Beziehung zum Anderen« (96)

An anderer Stelle nennt sie das die »Imminenz von Anderem«, und beschreibt damit einen Daseinszustand, der ihr erstmals bei der Lektüre von Margareta Poretes »Spiegel der einfachen Seelen« begegnet ist. Margarete Porete ist vor genau 700 Jahren, im Jahr 1310, für ihre Ideen auf dem Scheiterhaufen gestorben. Wir sollten dieses traurige Jubiläum zum Anlass nehmen, uns mit ihr wieder genauer zu beschäftigen, und nicht aus historischem Interesse.

Ihr Buch war zu seiner Zeit ein theologischer »Bestseller«, wenn man so will, für den die Autorin auf dem Scheiterhaufen sterben musste. Über ihre Lektüre des »Spiegels« schreibt Muraro: »Ich begann Worte eines Gesprächs zu hören, nicht nur eines neuen, sondern eines unerhörten Gesprächs zwischen zweien, die wir kurz eine Frau und Gott nennen. Eine Frau, das war gewiss, ob Gott, weiß ich nicht, aber gewiss war die Frau nicht allein. Es gab einen anderen oder eine andere, deren/dessen Stimme nicht bis zu mir gelangte, die ich aber vernahm, weil sie eine Unterbrechung in den Worten der Frau hervorrief, oder besser gesagt, einen Hohlraum, der die Lektüre verwandelte.« (12)

Der »Spiegel« ist nicht ein konsistenter Text, sondern das Dokument einer Beziehung zwischen einer Frau und dem Anderen. Was Muraro daran fasziniert, das ist die andere Art und Weise, wie Mensch und Gott, Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Körper und Seele hier miteinander in Beziehung waren. Nicht als Gegensätze, wie es die westliche Philosophie gelehrt hat. Die männliche Theologie hat sich ja viel mit dem erkenntnistheoretischen Problem beschäftigt, dass Gott nicht greifbar, nicht erkennbar für die Menschen ist.

»Zwischen der Frau und Gott galt diese Ordnung nicht«, schreibt Muraro, »Zwischen beiden fand eine ununterbrochene Bewegung statt, von einem zum anderen, mal verschwand die Frau (und war woanders), dann waren da zwei, bald war sie allein … Doch gab es keine Konfusion und noch weniger Gleichgültigkeit gegenüber der Realität und der Wahrheit, wie man glauben könnte und wie viele glauben, sobald von Mystik die Rede ist. Es gab so etwas wie die Eröffnung eines großen Spiels, eine Art Verhandlung über das, was wirklich und wahr ist, woran freimütig auch die Wünsche teilnehmen, ohne Zensur und Grenzen, ohne dass alles im Wahn unterging. Im fließend gewordenen Realen, lehrt uns Margareta, ertrinkt man nicht.« (14f).

Nicht um Glauben und Religion geht es also, sondern eher um eine Orientierung in der gegebenen Realität, die sich nicht mit der Verfolgung der eigenen Interessen begnügt oder damit, was nach der Logik dieser Welt und ihrer Systeme machbar und realistisch erscheint. Die Beziehung zu Gott, zum Anderen, ist nicht als systematische Abhandlung zu fassen, sondern sie ist experimentell, ein Spiel, bei dem alles unsicher ist.

Dieser »Gott der Frauen«, diese von Frauen erfundene, ersehnte und erhoffte Spiritualität stellt sich dem Problem, dass die Probleme dieser Welt unlösbar sind. Für uns. Dieses Gefühl der Unlösbarkeit von Problemen stellt sich heute ja wieder mit großer Wucht, denken Sie nur an den Klimawandel, wo es schon zehn nach Zwölf zu sein scheint, die großen internationalen Konflikte – Afghanistan, Palästina-Israel und so weiter – die immer verfahrener sind, die Schere der sozialen Ungleichheit bei uns. Die Probleme sind Legion.

Der bürgerliche Fortschrittsoptimismus, den die westliche Welt seit der Aufklärung entfaltet hat, zieht nicht mehr. Das ganze 19. Jahrhundert über und eigentlich noch bis vor wenigen Jahrzehnten dachten viele, sie hätten Lösungen: Würde man nur die richtigen Institutionen, die richtige Wissenschaft, die richtige Revolution machen, dann könnte die Welt gut werden, oder zumindest die schlimmsten Katastrophen verhindern.

Heute sind wir weniger optimistisch, obwohl es dieses Denken immer noch gibt. Viele aber resignieren oder ziehen sich auf das eigene Private zurück, sie richten sich darin ein, für sich selbst halbwegs durchzukommen und interessieren sich ansonsten für die Politik oder die Allgemeinheit nicht weiter. Sie fühlen sich sozusagen nicht zuständig für das Ganze der Welt. Diese Haltung ist sogar unter denen verbreitet, die politische Ämter innehaben: Sie vertreten eine bestimmte Partei, eine bestimmte Richtung, ihr eigenes Programm, und irgendwie hofft man offenbar, damit durchzukommen, so dass am Ende doch alles gut wird.

Theologie, Religion hat, so der Vorschlag, nicht die Aufgabe, noch mehr Inhalt zu bringen, der säkularen Politik Werte, Ethik, Moral hinzuzufügen, sondern beschreibt eine andere Haltung der Welt gegenüber, die Haltung, Mehr zu begehren, sich von Gott überraschen zu lassen, ohne Sicherheit, ohne dass es planbar oder restlos erklärbar wäre.

Es ist eine Haltung, die nicht glaubt, in sich selbst oder in der Welt, so wie wir sie vorfinden, den Maßstab und die Richtschnur des Handelns finden zu können oder besser, die sich nicht mit dem zufrieden geben will, was diese Welt an Maßstäben und Richtschnüren bereithält. Menschen mit dieser Haltung verstehen unter »Politik« nicht, bestimmte Ideologien oder Positionen oder Interessen zu »vertreten« und »durchzusetzen«. Aber ebenso wenig geht es ihnen um eine bloße Moderation zwischen verschiedenen Parteien oder Ansichten. Sondern sie ersehnen mehr, etwas Tieferes, Höheres, Anderes. Es geht dabei nicht darum, ob es dieses Tiefere, Höhere, Andere (das man Gott nennen kann oder auch nicht) gibt, sondern darum, ob es ersehnt wird.

Gott existiert, weil wir sie begehren, das Begehren ist es, das den Mangel von etwas erst sichtbar macht und damit eine Lücke schafft, zu der ich mich in eine Beziehung setzen kann. Diese Lücke, dieses Andere, diese Transzendenz können wir Gott nennen oder auch nicht, wichtig ist, dass sie nur durch die Beziehung, die wir dazu haben, überhaupt relevant wird.

Aber nicht so, dass Gott einfach das ist, was wir uns vorstellen. Wenn wir diese Lücke erst einmal entdeckt haben, so die Erfahrung der Mystikerinnen, wenn wir uns dazu in eine Beziehung setzen, dann gibt es tatsächlich eine Antwort. Wie ja auch die Affidamento-Beziehung zu einer anderen Frau keine konfliktfreie ist, es funktioniert nur, wenn sie mich herausfordert, mich zur Veränderung anregt, und dazu, das, was ich bisher gedacht habe, in Frage zu stellen. Die Freiheit entsteht nicht, wenn das Andere mich einfach bestätigt, sondern eben – in der Differenz.

Das Begehren als Grundlage der Differenz bietet also einen Übergang bietet zwischen einer politischen Praxis und einer religiösen Praxis. Die politische Praxis bestand im Affidamento, also in einer Politik der Beziehungen unter Frauen, die aus ihren Unterschieden einen Hebel macht für Veränderungen: Weil die andere anders ist als ich, weil sie im Bezug auf mein Begehren ein Mehr hat, kann ich mich durch sie verändern und die Möglichkeit des Handelns erschließt sich mir. Nicht mein Können und mein Haben macht mich handlungsfähig, sondern im Gegenteil mein Nichtkönnen und mein Nichthaben, das mich motiviert, das mich Ausschau halten lässt nach Autoritäten, nach anderen, nach der Differenz. Beziehungen der Ungleichheit. Es geht um Unterschiedliches, das sich nicht auseinander ableiten oder erklären lässt, zwischen dem aber dennoch eine Beziehung bestehen kann. Und in der Beziehung zu Gott erkennen die Mystikerinnen die krasseste Form der Ungleichheit. Es ist der Bezug zum Anderen, zur Differenz schlechthin.

Diese Suche nach Gott, nach dem Mehr, dem Anderen (in Großbuchstaben), diese »Bettelei«, wie Porete sie nennt, ist keineswegs auf religiöse Menschen beschränkt. Im Gegenteil: Sie findet sich auch bei Menschen, die keiner Glaubensgemeinschaft angehören, und sie fehlt vielen Vertretern und Vertreterinnen religiöser Institutionen ganz offensichtlich.

Religiöse Praxis bedeutet letztlich, diese Offenheit für das Andere, diese Bettelei, es möge doch noch mehr geben, als politische Praxis zu erkennen. Nicht Gott ist es, der zu uns spricht, sondern wir, indem wir Gott (oder wie immer man dieses Andere nennen will) begehren, rufen ihn oder sie in die Existenz. Es ist daher überflüssig, Gottesbeweise zu führen – oder Gotteswiderlegungen – womit sich die männliche Theologie so ausführlich beschäftigt hat.

Es geht vielmehr um ein Paradox: Dass Menschen eine Beziehung zu Gott, zur Transzendenz, zum Anderen, zum Wahren, zum wahrhaft Guten haben können, obwohl es eigentlich keine Verbindung gibt bzw. obwohl die Herstellung dieser Verbindung für Menschen nicht instrumentell verfügbar ist.

Oder anders gesagt: Es sind Menschen, die im Bezug auf ihr In-der-Welt-Sein Fragen haben, wirkliche Fragen, keine rhetorischen. Und Muraro entdeckt in den Texten der Mystikerinnen Reflektionen und Einsichten dazu. Zum Beispiel die Erfahrung, dass es Antworten auf diese Fragen geben kann, die unabhängig sind von der eigenen intellektuellen Eloquenz. Es ist eine »Theologie in der Muttersprache«, ein Wissen, das sich nicht im akademischen Jargon ausdrücken lässt, sondern nur im Konkreten, im jeweiligen Kontext, in der alltäglichen Praxis.

Oder, wie die Philosophin Andrea Günter es formuliert: »Mystik handelt von der Möglichkeit, etwas zu erkennen, ohne dass wir den Grund, die Ursache, die Substanz davon kennen müssen. Wir erkennen etwas, indem wir bei diesem sind.«

Simone Weil hat geschrieben, dass dafür die Muttersprache entscheidend ist. Also dass wir uns über Gott nicht in philosophisch-wissenschaftlichem Jargon unterhalten, sondern in der Muttersprache, der Alltagssprache. Für Simone Weil ist nämlich die Muttersprache der Ort, wo das Konkrete und die Transzendenz zusammenkommen. Denn die Muttersprache ist kein geschlossenes System mit feststehenden Definitionen und Regeln, sondern grundsätzlich offen für das Andere, das Neue. Sie ist der Ort, an dem Erfahrungsaustausch, Verhandlungen, Vermittlung der Differenz stattfinden kann. Die einfache, schöne Sprache, über die sich nicht einfach verfügen lässt, die sich dem System entzieht, ist gewissermaßen wie ein Spiel, das durchlässig ist für die Kontingenz Gottes.

Diese Theologie bringt Erkenntnisse hervor, aber keine, die sich »sichern« lassen oder die »allgemeingültig« wären. Für Muraro ist genau dies gleichbedeutend mit der Freiheit, »eine Freiheit, die in der Beziehung zu Gott erworben wurde und wesensgleich mit Liebe war, Freiheit von allen und von allem (auch »von Gott«) …, die also nichts und niemand garantieren kann. Aber eine Freiheit, die sich als Eröffnung und geheime Ressource anderer Freiheiten anbietet.« (21)

Dies war im Wesentlichen die Praxis von Simone Weil, die die Aufmerksamkeit für das Konkrete an erste Stelle gesetzt hat. Sie distanzierte sich damit von den revolutionären Parteien und Bewegungen, die einer Theorie anhingen und sie auf die konkreten Verhältnisse anzuwenden versuchten. Die Anwesenheit, das Dabeisein, war für Simone Weil so wichtig, dass sie es zum Beispiel nicht ausgehalten hat, fernab von denen zu sein, die leiden.

Eine andere Vordenkerin für diese Haltung ist die englische Schriftstellerin und Philosophin Iris Murdoch, die übrigens auch überhaupt nicht religiös war. Sie hat in den 1970er Jahren ein Buch über die »Souveränität des Guten« geschrieben. Darin widerspricht sie der »postmodernen« Auffassung, wonach ethische Werte und Moral »relativ« sind, also nur eine Frage von Aushandlungsprozessen unter Menschen. Sie besteht demgegenüber auf einer »Souveränität des Guten«. Allerdings kann dieses Gute eben nicht rational, durch die menschliche Vernunft und Wissenschaft erkannt werden. Damit ist es Anders, Transzendenz, Gott. Man kann es nicht definieren, fassen, beweisen, aber man kann sich dazu mit entsprechender Aufmerksamkeit in eine Beziehung setzen, in einer konkreten Situation.

Simone Weil hat in den 1930er Jahren überlegt, wie ein Mensch gut handeln kann angesichts der Tatsache, dass er oder sie so schwach ist, dass die Pflichterfüllung scheitert, sobald der äußere Druck nachlässt. Das Bild, das sie vorschlägt, ist das der Schwerkraft: Während das Modell der Pflicht gewissermaßen so funktioniert, dass der Mensch gegen die Schwerkraft ankämpft, indem er seine unmittelbaren Triebe oder Gelüste bekämpft, war sie der Meinung, es müsse genau andersherum sein. Irgendwie müsste es gelingen, die moralische »Schwerkraft« für sich arbeiten zu lassen, sodass die Notwendigkeit einer Situation uns sozusagen mit sich zieht in Richtung auf das Gute. Sie beschreibt damit eine innere Haltung, die sich eher als Gehorsam denn als Pflichterfüllung beschreiben lässt, die mehr mit einem sich Ergeben vergleichbar ist als mit einem dagegen Ankämpfen.

Iris Murdoch hat dies weitergedacht. In ihrem Buch zeigt sie, dass die Vorstellung, ein Mensch würde in einer gegebenen Situation frei entscheiden, eine Schimäre ist. Denn wenn diese konkrete Situation eintritt, werden wir genau so handeln, wie es durch unser bisheriges Leben und das, was wir bis dahin gedacht haben, vorgezeichnet ist. Die menschliche Freiheit, so Murdoch, besteht nicht darin, bei einem punktuellen Ereignis dieses oder jenes Handeln zu wählen aufgrund von moralischen (oder eben auch egoistischen) Überlegungen, die man in eben diesem Moment anstellt. Sondern darin, dass wir in einem endlosen Prozess danach streben, die Welt und die in ihr auftretenden Situationen und Fragestellungen zunehmend »klarer« zu sehen und die ihnen innewohnenden Notwendigkeiten zu erkennen.

Oder anders gesagt: Nicht die Vernunft ermöglicht es den Menschen, das Gute zu erkennen und zu tun, sondern die »Schwerkraft« der jeweiligen Situation, die uns, wenn wir ihr nur die notwendige Aufmerksamkeit entgegenbringen, wenn wir also genau hinsehen und uns darum bemühen, die Realität zu verstehen, unweigerlich »zwingt«, dieses oder jenes zu tun. In Murdochs Worten: »Wenn man die vorausgegangene Arbeit der Aufmerksamkeit ignoriert und nur die Leere im Moment der Entscheidung sieht, dann ist man geneigt, Freiheit mit dem offensichtlichen Handeln in diesem Moment gleichzusetzen, weil es nichts anderes gibt, womit man sie gleichsetzen kann. Aber wenn wir berücksichtigen, wie die Arbeit der Aufmerksamkeit vor sich geht, wie kontinuierlich sie sich vollzieht, und wie unmerklich sie Wertstrukturen um uns herum baut, sollten wir nicht überrascht sein, dass in den kritischen Momenten der Entscheidung der größte Teil der Entscheidungsfindung bereits geschehen ist.«

Der Weg der Mystikerinnen dazu lautet, was für manche Feministinnen lange ein Ärgernis war: »Vernichtigung«, um einen Ausdruck von Margarete Porete zu nehmen. Oder, wie Thérèse von Lisieux es ausdrückt: »Klein werden«. Die Ich-Losigkeit, der Verzicht auf den eigenen (guten) Willen, die Abkehr von großen Theorien und pflichtbewusster Anstrengung, so die Entdeckung der Mystikerinnen, ermöglicht einen direkten »Draht« zu Gott, zur Transzendenz.

Und anders herum ist diese selbst-lose Öffnung für das Andere der einzige Weg, den Gott hat, um auf diese Welt zu kommen.

Für viele Feministinnen stellten diese »Demutsgesten« der Mystikerinnen, die wiederholte Betonung der eigenen Schwäche, ihrer Kleinheit, ihrer Unmaßgeblichkeit (auf die zum Beispiel Teresa von Ávila ihre Visionen zurückführt, wogegen »kluge und verständige Männer« solche Gottesgaben nicht nötig hätten) ein Ärgernis dar.

Wie konnten solche Frauen Vorbilder für die eigenen Emanzipationsbestrebungen sein? Manche Theologinnen versuchten daher auch, diese Haltung der Mystikerinnen mit den Zeitumständen zu erklären – da Frauen das Priesteramt und die akademische Lehre verschlossen waren, hätten sie sich zwangsläufig in diese Richtung orientiert, um ihre eigenen Ansichten und Lehren mit göttlichen Visionen quasi abzusichern. Oder sie hätten ihre Kleinheit und Schwäche betont, um den »Oberen« keine Angriffsfläche zu bieten.

Dem liegt aber ein Missverständnis zu Grunde: Wenn die Mystikerinnen ihre »Kleinheit« und »Nichtigkeit« betonen, bezieht sich das nicht auf die Männer, die Kirche, die Hierarchien ihrer Zeit, sondern es bezieht sich auf Gott, also auf jenes Andere, das wir begehren, weil wir in der Welt einen Mangel feststellen.

Sicher, häufig genug haben die Mystikerinnen auch die eigene intellektuelle Schwäche im Gegensatz zum theologischen Scharfsinn zeitgenössischer Kirchenlehrer betont. Wenn sie aber gleichzeitig deutlich machen, dass gerade ihre Schwäche eine Beziehung zu Gott ermöglicht, dann ist das wohl kaum als Demutsgeste zu interpretieren, sondern eher als Ausdruck großen Selbstbewusstseins. Das allerdings in der Tat kein Interesse an einer Konkurrenz mit den Männern hat. Denn es geht ja um viel mehr.

Der Hinweis auf die Notwendigkeit der »Vernichtigung des Ichs« ist eine klare Gegenposition zu den religiösen Programmen, die auf »Identitätsfindung« oder »Herausbildung eines klaren Profils« abheben. Ich wäre dafür, das deutlicher zu thematisieren und die religiösen Institutionen und die Art und Weise, wie wir interreligiösen Dialog führen, als einen Weg zu bezeichnen, der uns von Gott weg führt und uns ihr nicht näher bringt.

Und es ist nicht ein nur speziell religiöses Thema, es betrifft auch den Bereich des Politischen, der ja ebenfalls rund um die Stichworte »Profilbildung«, »Programmschärfung«, »Standpunkte formulieren« und so weiter herum organisiert ist. Es geht nämlich um eine Sicht der Welt, die es erlaubt, eine ganz andere Art der Politik zu erfinden.

Wir können dann erkennen, dass bestimmte Tätigkeiten politische Tätigkeiten sind, auch wenn sie im Allgemeinen als zweitrangig und nebensächlich gelten, weil sie nicht den großen Entwurf machen, sondern in alltäglicher Vermittlungsarbeit bestehen. Diese offizielle Politik – die der Gesetze, Institutionen, Parteien – ist nicht gänzlich unwichtig. Aber sie ist im Hinblick auf den Dialog und die zwischenmenschliche Beziehung zweitrangig verglichen mit jener ersten, konkreten Politik. Denn nur dort, im Konkreten, kann eine Öffnung entstehen, durch die Göttliches, Transzendentes, und damit: Neues in die Welt kommt. Es ist die Grundlage dafür, dass überhaupt Veränderung möglich ist.

Entscheidend für diese Praxis ist es, von sich selbst auszugehen, also vom konkreten und alltäglichen Ereben, aber nicht dabei stehen zu bleiben, sondern dieses Konkrete und Alltägliche und Eigene in Worte zu fassen, dem Urteil anderer Frauen anzuvertrauen und so zu einer neuen »symbolischen Ordnung« zu finden. Dabei können die Mystikerinnen Lehrerinnen sein – nicht aus historischem Interesse oder um vergessene »Frauengestalten« gerechtigkeitshalber in den theologischen Kanon zu integrieren, sondern weil ihre Entdeckungen, ihre Formulierungen, ihre Visionen und Ideen Anknüpfungspunkte für unser eigenes Begehren sein können, die Welt zu verstehen, unser eigenes (politisches) Handeln zu gestalten und eine Beziehung zum Transzendenten, zum Göttlichen, einzugehen.

Die Politik der Frauen, die Theologie der Muttersprache, ist gleichzeitig komplizierter und einfacher als diese üblichen Kämpfe um die Macht, um Einfluss, um Revolution. Sie besteht darin, eine andere politische Praxis zu haben. Eine Praxis, die die konkreten Kämpfe und Projekte nicht geringschätzt, aber sich nicht der Illusion hingibt, auf irgendetwas definitive Antworten und absolute Wahrheiten haben zu können. Frauen (und auch Männer, denn es handelt sich hier nicht um eine Wahrheit, die nur für Frauen gilt, sondern um eine Wahrheit, die von Frauen entdeckt und formuliert wurde) – also Menschen, die das Gespräch mit Gott suchen, sind »mit der Gewissheit in der Welt, dass in ihr auch das Unmögliche Raum hat oder ihn finden kann. … Es gibt in dieser Welt ein Reales, das nicht gänzlich von dieser Welt ist.« (81)

Der »unvorhersehbare« Gott, von dem die Frauen berichten, ist anwesend und abwesend gleichzeitig (der Fern-Nahe, wie Margarete Porete schreibt), er gibt sich in einer Beziehung freier Liebe zu erkennen, lässt sich aber niemals greifen. Deshalb ist es auch völlig egal, ob wir das, worum es hier geht, Gott nennen oder irgendwie anders. Er/Sie/Es lässt sich sowieso nicht beweisen, nicht sichern, nicht herbeizwingen. Aber er/sie/es lässt sich in einer konkreten Situation erfahren. Es ist keine Illusion. Ich kann es ersehnen, lieben, und durch mein Sehnen und meine Liebe kann es sich ereignen oder auch nicht. Es hängt von mir ab und es hängt nicht von mir ab. Das ist das große Paradox: Es ist kontingent, also zufällig. Und es ist gleichzeitig notwendig, denn wir Menschen brauchen es so dringend wie die Luft zum Atmen. Deshalb bleiben wir immer Bedürftige, und genau darin, in dieser Bedürftigkeit, liegt der Schlüssel für unsere Freiheit. Es ist die Verleugnung dieser Bedürftigkeit, die uns Menschen unfrei macht. (34)

Dies war die Haltung, aus der heraus die religiösen Frauen des 13. und 14. Jahrhunderts ihre »Theologie in der Muttersprache« entwickelten, und mit der sie, wie Muraro überzeugt ist, auch die Grundlagen der westlichen Demokratien geprägt haben. »Es handelte sich um einen Kampf, den wir als politisch betrachten können. Dabei ging es aber nicht um politische Macht oder soziale Gerechtigkeit: Der Kampf ging um einen größeren und freieren Sinn unseres Daseins in der Welt. Es ging um das Glück, ja, ich glaube, das ist das richtige Wort.« (24)

Gott ist nicht relativ, aber sie lässt sich auch nicht in ein abstraktes, universales System gießen. Gott ist ganz und gar wahr und gut, aber eben immer nur in einer konkreten Situation. Politik ebenso wie Frömmigkeit bedeutet, diesen konkreten Situationen gegenüber aufmerksam zu sein und ihnen nicht übergeordnete universalistische Systeme überzustülpen. Politik bedeutet, jederzeit offen zu sein für neue Möglichkeiten und Überraschendes, das Andere zu achten und nicht das eigene Ich und den eigenen Willen aufzuplustern. Dabei können Mystikerinnen Lehrmeisterinnen sein, und das ist ihre heutige Relevanz.


Vortrag in der »Kirche der Stille« in Hamburg-Altona, 29.3.2010